Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Aktenzeichen 23 B 99.32897) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2000 in der Fassung vom 31. Mai 2000 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der 1968 in Sulaimania im Nordirak geborene Beigeladene ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er kam im Mai 1997 nach Deutschland und beantragte Asyl. Zur Begründung trug er im Wesentlichen vor, er habe bis zum Einmarsch der Truppen der irakischen Regierung und der kurdischen Partei DPK im September 1996 in Sulaimania u.a. für eine japanische Hilfsorganisation als Leibwächter gearbeitet. Er befürchte, dass verschiedene in seiner Wohnung aufbewahrte Bescheinigungen der Hilfsorganisation in die Hände der DPK und damit in die von Spitzeln des irakischen Staates gefallen seien. Deshalb und weil er vor einem erneuten Eindringen der irakischen Armee in den Nordirak Angst gehabt habe, sei er ausgereist.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte die Anerkennung des Beigeladenen als Asylberechtigten ab, stellte aber fest, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen (Nr. 2 des Bescheides) und dass er nicht in den Irak abgeschoben werden darf sowie von einer Abschiebungsandrohung in ein anderes Land abzusehen ist (Nr. 3 des Bescheides).
Das Verwaltungsgericht hat die hiergegen gerichtete Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) abgewiesen. Auf die Berufung des Bundesbeauftragten hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts und die Nrn. 2 und 3 Satz 1 des Bescheides des Bundesamts aufgehoben. Der Schutz nach § 51 Abs. 1 AuslG stehe dem Beigeladenen schon deshalb nicht zu, weil im kurdisch beherrschten Nordirak, aus dem er stamme, gegenwärtig weder staatliche Gewalt des Irak noch staatsähnliche Gewalt der Kurden bestehe. Auch Gewalt durch Agenten des zentralirakischen Regimes könne in diesem Gebiet keine politische Verfolgung darstellen.
Auf die Revision des Beigeladenen hat das Bundesverwaltungsgericht den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aufgehoben, weil er die hier anzuwendenden Grundsätze einer inländischen Fluchtalternative nicht berücksichtigt hat, und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat daraufhin die Berufung des Bundesbeauftragten zurückgewiesen und damit die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zugunsten des Beigeladenen bestätigt. Es könne dahinstehen, ob der Beigeladene wegen seiner Tätigkeit für eine westliche Hilfsorganisation bei seiner Ausreise verfolgungsgefährdet gewesen sei, da er jedenfalls wegen seiner ungenehmigten Ausreise und Asylantragstellung im westlichen Ausland bei einer Rückkehr im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen insbesondere in Form einer übermäßigen Bestrafung zu befürchten habe. Grundsätzlich könnten Iraker, die aus den autonomen kurdischen Provinzen im Nordirak stammten, zwar auf dieses Gebiet als sichere innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden, wenn sie wegen mangelnder politischer Exponiertheit und aufgrund familiärer oder klientelistischer Verbindungen sich dort (wieder) aufhalten könnten. Ob diese Voraussetzungen bei dem Beigeladenen vorlägen oder ob ihm wegen seiner Tätigkeit für eine westliche Hilfsorganisation Anschläge irakischer Agenten drohten, könne offen bleiben. Denn der Schutz vor Verfolgung im Nordirak scheitere für den Beigeladenen schon daran, dass er dieses Gebiet nicht freiwillig zumutbar erreichen könne. Er sei nicht im Besitz gültiger irakischer Reisepapiere. Ohne solche Reisedokumente sei eine Durchreise durch Syrien, die Türkei oder den Iran in den Nordirak nicht möglich. Dem Beigeladenen könne auch nicht zugemutet werden, bei der irakischen Auslandsvertretung in der Bundesrepublik Deutschland Pass oder Rückreisepapiere zu beantragen, da so seine ungenehmigte Ausreise bekannt und zwangsläufig auch die Asylantragstellung im westlichen Ausland vermutet würde. Dafür, dass dem Beigeladenen von deutschen Behörden Rückreise-Ersatzpapiere ausgestellt würden, die für die Türkei auch als Grundlage für ein Transit-Visum genügten, seien konkrete Anhaltspunkte weder vorgetragen noch ersichtlich.
Der Bundesbeauftragte macht mit der Revision geltend, das Berufungsgericht habe unter Verstoß gegen Bundesrecht die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG von der Unerreichbarkeit des Gebiets einer inländischen Fluchtalternative abhängig gemacht. Dem Berufungsgericht hätten sich außerdem weitere Aufklärungsmaßnahmen zu der Frage aufdrängen müssen, ob der Beigeladene für eine Rückreise unmittelbar in den Nordirak die erforderlichen Reisepapiere erlangen könne.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig und begründet. Die Zurückweisung der Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO).
Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, dass dem Beigeladenen jedenfalls wegen seiner ungenehmigten Ausreise und Asylantragstellung in Deutschland bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen drohen und dass er auf den kurdisch beherrschten Nordirak als inländische Fluchtalternative – unabhängig vom Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative – nur dann verwiesen werden kann, wenn er dieses Gebiet, sei es auch nur freiwillig, in zumutbarer Weise erreichen kann. Asylrechtlich unbeachtlich ist für den im Ausland befindlichen Asylbewerber dabei die nur vorübergehende Nichterreichbarkeit der sicheren Gebiete, etwa infolge unterbrochener Verkehrsverbindungen oder typischerweise behebbarer Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Reisepapieren und Transitvisa. Die Anerkennung des Asylbewerbers als politischer Flüchtling nach Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG in Verbindung mit Art. 1 A GFK ist in solchen Fällen mithin erst gerechtfertigt, wenn feststeht, dass ihm die Rückkehr in eine sichere Region des Heimatstaates, die auch sonst alle Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative erfüllt, dauerhaft nicht zumutbar möglich ist. Dies hat der Senat mit dem gleichzeitig in der Sache 9 C 16.00 ergangenen Urteil (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) entschieden. Hierauf wird verwiesen.
Es mag dahinstehen, ob die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den grundsätzlich in Frage kommenden Rückreisewegen in den Nordirak durch Syrien, den Iran oder die Türkei die rechtliche Schlussfolgerung des Berufungsgerichts tragen, der Beigeladene könne das sichere Gebiet nicht freiwillig zumutbar erreichen, und ob das Berufungsgericht damit die dauerhafte Nichterreichbarkeit gemeint hat. Das Berufungsurteil kann jedenfalls deshalb keinen Bestand haben, weil diese auch aus der Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserheblichen Feststellungen vom Bundesbeauftragten erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffen werden. Die Sache ist daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Denn die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen nicht aus, in der Sache selbst zu entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), und das Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).
Der Bundesbeauftragte rügt zu Recht einen Verstoß gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Zur Klärung der Frage, ob der Beigeladene ohne gültige irakische Reisepapiere vor allem über die Türkei in den Nordirak einreisen kann, hätte sich das Berufungsgericht nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dem Beigeladenen von deutschen Behörden Rückreise-Ersatzpapiere ausgestellt würden, die der Türkei als Grundlage für ein Transit-Visum genügten, seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Gerade vor dem Hintergrund des auch vom Berufungsgericht gewürdigten Erlasses des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 31. Oktober 1997 an die nachgeordneten Ausländerbehörden, wonach ausreisepflichtigen (passlosen) irakischen Staatsangehörigen bis zu einer gegenteiligen Erfahrung zur Ausreise in den Irak ein Reisedokument auszustellen und Gelegenheit zum Eintrag eines türkischen Visums zu geben sei, hätten sich dem Berufungsgericht auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag des Bundesbeauftragten weitere Erkundigungen beim Staatsministerium des Innern und beim Auswärtigen Amt dazu aufdrängen müssen, ob und inwieweit auf der angesprochenen Grundlage die freiwillige Rückkehr in den Nordirak möglich ist, insbesondere ob und in welchem Umfang solche Reisepapiere und Transitvisa bereits erteilt worden sind.
Das Berufungsgericht muss die unterlassene Aufklärung nunmehr nachholen. Entsprechende Auskünfte hat das Berufungsgericht im Übrigen ausweislich der vom Bundesbeauftragten im Revisionsverfahren vorgelegten Unterlagen, die hier als neue Tatsachen allerdings nicht berücksichtigt werden können, zwischenzeitlich eingeholt und gestützt darauf in jüngeren Entscheidungen die Erreichbarkeit des Nordirak über die Türkei angenommen. Sollte das Berufungsgericht die Erreichbarkeit des Nordirak für den Beigeladenen im Ergebnis bejahen, müsste es die bisher offen gelassene Frage entscheiden, ob der Beigeladene angesichts seiner früheren Tätigkeit für eine westliche Hilfsorganisation vor politischer Verfolgung durch den irakischen Staat – etwa durch irakische Agenten – im Nordirak hinreichend sicher ist. Gegebenenfalls müsste es auch noch prüfen, ob dem Beigeladenen dort politische Verfolgung durch eine etwaige im Nordirak entstandene staatsähnliche Herrschaftsgewalt der DPK/KDP droht (vgl. zu den Anforderungen an staatsähnliche oder quasistaatliche Herrschaftgewalt zuletzt BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000 – 2 BvR 260/98 und 1353/98 – NVwZ 2000, 1165).
Unterschriften
Dr. Paetow, Hund, Richter, Beck, Dr. Eichberger
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 16.01.2001 durch Battiege Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen