Leitsatz (amtlich)
Die Einleitungsbehörde muss bei der Bestimmung der Anhörungsfrist nach § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO dem Recht des beschuldigten Soldaten, sich von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen, im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten sowie des Gebots der Verfahrensbeschleunigung soweit wie möglich Rechnung tragen.
Verfahrensgang
Truppendienstgericht Nord (Urteil vom 04.07.2019; Aktenzeichen N 5 VL 12/17) |
Tenor
Die Berufung der früheren Soldatin gegen das Urteil der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 4. Juli 2019 wird zurückgewiesen.
Die frühere Soldatin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der ihr darin erwachsenen notwendigen Auslagen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Verfahren betrifft die disziplinarrechtliche Ahndung eines 24fachen Reisekostenbetrugs unter Verwendung gefälschter Dokumente.
Rz. 2
1. Die heute 35-jährige frühere Soldatin trat nach ihrem Real- und Gesamtschulabschluss am 4. Oktober 2004 in die Bundeswehr ein. Sie verpflichtete sich auf insgesamt 12 Jahre und erlangte im Rahmen der zivilberuflichen Aus- und Weiterbildung den Abschluss einer Bürokauffrau. In der Bundeswehr wurde sie im Bereich... eingesetzt und 2007 zum Stabsunteroffizier befördert. Die frühere Soldatin bewährte sich von Juni bis Oktober 2009 in einem Auslandseinsatz in Afghanistan und ist berechtigt, die Einsatzmedaille der Bundeswehr in Bronze zu tragen.
Rz. 3
Ihre dienstlichen Leistungen wurden im Juni 2010 mit einem Durchschnittswert der Aufgabenerfüllung von 3,50 beurteilt. Sie gehöre dem hinteren Drittel der betrachteten Unteroffiziere an und erfülle im Schnitt die an sie gestellten Anforderungen. Sie müsse noch lernen, sachliche Kritik anzunehmen und in emotionalen Momenten den Dienstweg einzuhalten. Für Verwendungen über die festgesetzte Dienstzeit hinaus oder mit größerem Verantwortungsbereich empfehle sie sich nicht. Auch im Februar 2013 unterstützte ihr damaliger Kompaniechef ihren Antrag auf Übernahme in die Feldwebellaufbahn nicht.
Rz. 4
Die Soldatin ist alleinerziehende Mutter einer am 19. Juli 2013 geborenen Tochter. Ihr Kind kam mit erheblichen gesundheitlichen Belastungen zur Welt: einer Herzerkrankung (Kammerscheidewanddefekt) und einer krankhaften Blutschwammbildung (Hämangiomatose). Diese Erkrankungen machten unmittelbar nach der Geburt einen mehrmonatigen Klinikaufenthalt erforderlich. Sie besserten sich danach aufgrund pharmakologischer Behandlung. Nach Aussage ihrer letzten Disziplinarvorgesetzten, Hauptmann A., erhielt die frühere Soldatin wegen des Stillens ihres Kindes reduzierte Arbeitszeiten; sie konnte aber wegen eigener Krankheit, wegen des Berufsförderungsdienstes und wegen der Krankheit ihrer Tochter keinem regelmäßigen Arbeitsalltag nachgehen. Sie sei zuletzt nur für einfache Arbeiten eingesetzt worden. Ihre aktive Dienstzeit endete mit Ablauf September 2016.
Rz. 5
Die frühere Soldatin ist wegen des mit dem angeschuldigten Dienstvergehen teilweise sachgleichen Reisekostenbetruges mit Urkundenfälschung vorbestraft. Das Amtsgericht... hat dafür mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 16. Januar 2017 eine Freiheitsstrafe von 11 Monaten verhängt und zur Bewährung ausgesetzt. Ferner erließ es am 11. Februar 2019 einen ebenfalls rechtskräftigen Strafbefehl wegen unaufgeforderten Versendens pornographischer Schriften mit einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 40 €. Dass Disziplinarbuch der früheren Soldatin enthält keine weiteren Eintragungen.
Rz. 6
Die ehemalige Soldatin hat nach ihrem Ausscheiden aus der Bundeswehr verschiedene berufliche Tätigkeiten angenommen und nebenher eine Ausbildung zur Personalreferentin an der Wirtschaftsakademie... mit Erfolg abgeschlossen. Sie hat ihre wirtschaftlichen Verhältnisse als angespannt bezeichnet und konkretere Angaben zu ihren Einnahmen und Ausgaben gemacht. Die Übergangsgebührnisse sind der früheren Soldatin unter Abzug von Erstattungszahlungen bis September 2019 ausbezahlt worden. Eine Übergangsbeihilfe in Höhe von 16 979,10 € ist im Hinblick auf das Disziplinarverfahren einbehalten worden.
Rz. 7
2. Von September 2014 bis August 2015 erhielt die frühere Soldatin im Rahmen der Berufsförderung Gelegenheit, sich bei künftigen privaten oder öffentlichen Arbeitgebern vorzustellen. Dafür reichte sie insgesamt 28 Reisekostenabrechnungen ein, obwohl ein Großteil der darin angegebenen Vorstellungstermine nicht oder nicht mit dem behaupteten Aufwand stattgefunden hatte. Mit Schriftsatz vom 19. August 2016 hörte die Wehrdisziplinaranwaltschaft... die frühere Soldatin zur Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens an. Der Verteidiger wies darauf hin, dass er den Schriftsatz erst am 25. August 2016 erhalten habe und bat wegen seines anstehenden Urlaubs vom 1. bis 21. September 2016 und der Erkrankung seiner Mandantin um Fristverlängerung bis 5. Oktober 2016. Zudem verlangte er die Anhörung der Vertrauensperson, die wegen des Widerspruchs der früheren Soldatin bislang unterblieben war. Nach Anhörung der Vertrauensperson wurde dem Verteidiger mit Telefax vom 2. September 2016 eine Fristverlängerung bis 12. September 2016 bewilligt und die Niederschrift der Anhörung übersandt. Ungeachtet der Proteste des Verteidigers wurde das Disziplinarverfahren mit Verfügung vom 14. September 2016 eingeleitet.
Rz. 8
Nach persönlicher Anhörung der früheren Soldatin schuldigte die Wehrdisziplinaranwaltschaft die frühere Soldatin im März 2017 an, bei dem Karrierecenter der Bundeswehr... 24 Anträge mit 44 wahrheitswidrigen Erklärungen zur Vorstellungsreisen eingereicht zu haben. Diesen Erklärungen habe sie in acht Fällen eine von ihr gefälschte Einladung oder Teilnahmebescheinigung beigefügt, um die Auszahlung ihr nicht zustehender Reisekostenzahlungen zu erreichen. Durch ihr Verhalten sei der Bundesrepublik Deutschland ein Vermögensschaden von mindestens 6 109,44 € entstanden.
Rz. 9
Die frühere Soldatin hat die Tatvorwürfe im Straf- und Disziplinarverfahren eingeräumt. Sie bedauere die Taten aus vollstem Herzen und habe nur so gehandelt, weil sie von Zukunftsängsten zerfressen und "neben sich" gewesen sei. Sie habe Angst davor gehabt, nach dem Ausscheiden aus der Bundeswehr keine Arbeit zu finden, kein Geld für die Privatversicherung ihrer Tochter zu haben und die teuren Operationen für ihr krankes Kind nicht zahlen zu können. Das durch die falschen Angaben erlangte Geld habe sie für die allgemeine Lebenshaltung, z.B. für Medikamente und Arztrechnungen ausgegeben. Wenn sie vor Dienstzeitende richtig finanziell beraten worden wäre, hätte sie die Taten nicht begangen.
Rz. 10
Das Truppendienstgericht hat der früheren Soldatin wegen des Dienstvergehens mit Urteil vom 4. Juli 2019 das Ruhegehalt aberkannt. Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen sei bei einem Reisekosten- oder Trennungsgeldbetrug die Herabsetzung im Dienstgrad. Es liege jedoch ein schwerer Fall vor, der den Übergang zur nächsthöheren Maßnahme rechtfertige. Es sei eine große Zahl über fast ein Jahr wiederholter Täuschungshandlungen zu verzeichnen, die strafrechtlich als gewerbsmäßiger Betrug und Urkundenfälschung bewertet worden seien, so dass von einer erheblichen und nachhaltigen kriminellen Energie ausgegangen werden müsse. Die für die frühere Soldatin sprechenden Gesichtspunkte hätten demgegenüber geringes Gewicht. Insbesondere sei das Vorbringen der Angeschuldigten zu ihrer seelischen Notlage nicht glaubhaft. Aus den vorgelegten Unterlagen ergebe sich, dass sich die gesundheitliche Lage ihres Kindes zur Tatzeit bereits erheblich stabilisiert habe. Die Kosten für die private Zusatzversicherung der Tochter seien mit 38,12 € im Monat überschaubar gewesen. Ein akuter finanzieller Engpass habe nicht bestanden. Die frühere Soldatin habe bis September 2019 Anspruch auf Übergangsgebührnisse gehabt. Für ihre Behauptung, das erschlichene Geld für Medikamente oder Arztrechnungen ausgegeben zu haben, fehle jeglicher Nachweis. Auch widerspreche die Verwendung des Geldes für die sonstige Lebensführung ihrem Vorbringen, aus Vorsorge für künftige finanzielle Belastungen gehandelt zu haben.
Rz. 11
3. Die fristgerecht eingegangene Berufung ist in der Berufungshauptverhandlung auf die Maßnahmebemessung beschränkt worden. Zur Begründung wird ausgeführt, das Disziplinarverfahren leide an einem wesentlichen Verfahrensfehler. Die frühere Soldatin sei vor Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nicht ordnungsgemäß angehört worden und auch die Beteiligung der Vertrauensperson sei fehlerhaft erfolgt. Weder die Erkrankung der früheren Soldatin noch der Urlaub ihres Verteidigers seien bei der Bemessung der Anhörungsfrist berücksichtigt worden. Bei Gewährung einer angemessenen Frist hätte die Wehrdisziplinaranwaltschaft... nicht mehr tätig werden dürfen, sondern das Verfahren an die Wehrdisziplinaranwaltschaft beim Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr abgeben müssen. Darum habe sie diesen Mangel auch nicht später heilen können.
Rz. 12
In der Sache habe das Truppendienstgericht das uneigennützige Handeln der früheren Soldatin zugunsten ihrer Tochter nicht berücksichtigt. Ihre hochgradige Belastungssituation sei ebenso wenig zu ihren Gunsten berücksichtigt worden wie die mangelnde Unterstützung durch den Dienstherrn. Das Truppendienstgericht sei zu Unrecht von der für derartige Fälle vorgesehenen Regelmaßnahme einer Dienstgradherabsetzung abgewichen. Auch bei Berücksichtigung des Zwecks des Disziplinarverfahrens, den ordnungsgemäßen Dienstbetrieb in der Bundeswehr wiederherzustellen, sei die Verhängung der Höchstmaßnahme im vorliegenden Fall nicht geboten.
Rz. 13
4. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Person der früheren Soldatin, zum truppendienstgerichtlichen Verfahren und zur Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung wird auf das Urteil des Truppendienstgerichts verwiesen. Zu den im Berufungsverfahren eingeführten Urkunden und abgegebenen Erklärungen wird auf das Protokoll der Berufungshauptverhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Rz. 14
Die zulässige Berufung, über die nach § 124 WDO in Abwesenheit der angeschuldigten früheren Soldatin verhandelt werden konnte, ist unbegründet. Das Truppendienstgericht hat der früheren Soldatin zu Recht das Ruhegehalt aberkannt.
Rz. 15
1. Der in der Berufungsschrift behauptete Verfahrensmangel einer unzureichenden Anhörung der früheren Soldatin vor Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens liegt nicht vor. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft hat der früheren Soldatin für die vorgeschriebene Anhörung mit Schreiben vom 19. August 2016, zugegangen am 25. August 2016, letztlich eine Frist von zweieinhalb Wochen bis 12. September 2016 zur Stellungnahme eingeräumt. Diese Fristbestimmung war nach den Umständen des Falles noch angemessen.
Rz. 16
Die Bestimmung der Frist für die Anhörung nach § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Einleitungsbehörde. Sie muss sich dabei ernsthaft bemühen, dem Recht des beschuldigten Soldaten, sich von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen (§ 90 Abs. 1 Satz 1 WDO), soweit wie möglich Geltung zu verschaffen und einem nachvollziehbaren Begehren dieses Verteidigers bezüglich der Fristsetzung im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten der Einleitungsbehörde sowie des Gebots der Verfahrensbeschleunigung Rechnung zu tragen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 2018 - 1 StR 415/17 - NJW 2018, 1698 Rn. 9 zu § 213 StPO).
Rz. 17
Diesem Gebot ist die Einleitungsbehörde im vorliegenden Fall durch die Fristverlängerung bis zum 12. September 2016 noch gerecht geworden. Zwar entspricht es im Regelfall pflichtgemäßen Ermessen, einem durch Urlaub verhinderten Rechtsanwalt eine Fristverlängerung über das Ende der Urlaubszeit hinaus zur ordnungsgemäßen Interessenvertretung seines Mandanten zu bewilligen. Im vorliegenden Fall lagen jedoch besondere Umstände vor, die einer entsprechenden Bewilligung des Fristverlängerungsgesuchs entgegenstanden.
Rz. 18
Zum einen war es dem Verteidiger noch vor seinem Urlaubsantritt möglich, eine Erklärung zum Tatvorwurf abzugeben. Er hatte gegenüber der Staatsanwaltschaft im sachgleichen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren unter dem 25. August 2016 eine Stellungnahme mit einem Geständnis der früheren Soldatin übermittelt. Die Verteidigungslinie war mit seiner Mandantin folglich schon im Wesentlichen abgestimmt. Darauf lässt auch sein Antrag schließen, unter Widerruf des bisherigen Verzichts eine Beteiligung der Vertrauensperson herbeizuführen. Daher kam der behaupteten Krankheit der früheren Soldatin keine Bedeutung für die Interessenwahrnehmung und die Fristbemessung zu. Dem Verteidiger war es darum auch möglich, noch vor seinem Urlaubsbeginn den wesentlichen Teil der Stellungnahme vorzubereiten.
Rz. 19
Zum anderen stand die Wehrdisziplinaranwaltschaft bei der Einleitung des Disziplinarverfahrens unter erheblichem Zeitdruck. Durch das herannahende Dienstzeitende der früheren Soldatin am 30. September 2016 stand die Auszahlung einer Übergangsbeihilfe an, deren Einbehaltung nach § 82 Abs. 2 WDO nicht ohne Einleitung des Disziplinarverfahrens möglich war. Ferner hätte die beantragte Fristverlängerung über das Dienstzeitende der früheren Soldatin hinaus dazu geführt, dass ein Zuständigkeitswechsel bei der Einleitungsbehörde und bei der Wehrdisziplinaranwaltschaft und damit eine erhebliche Verzögerung des Disziplinarverfahrens eingetreten wäre (vgl. § 94 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 WDO i.V.m. Ziff. 1.1 Buchst. c) (1) (c) (aa) und Buchst. e) (1) ZDv A-2160/6). Daher sprach das Prinzip der Verfahrensbeschleunigung (§ 17 Abs. 1 WDO) mit sehr hohem Gewicht dafür, eine Fristverlängerung nicht über Mitte September 2016 hinaus zu gewähren. Denn die Einleitungsverfügung musste noch erstellt, gezeichnet und bis Ende September 2016 wirksam zugestellt werden. Eine unangemessene Benachteiligung der früheren Soldatin war damit nicht verbunden, weil ihrem Verteidiger die Möglichkeit blieb, seinen Urlaubsvertreter (vgl. § 53 BRAO) über die vereinbarten Verteidigungsargumente zu informieren und ihn mit der noch offenen Stellungnahme zur Äußerung der Vertrauensperson zu betrauen.
Rz. 20
Der Einwand, dass die Vertrauensperson nicht ordnungsgemäß beteiligt worden sei, greift gleichfalls nicht durch. Die Vertrauensperson hat sich unter dem 2. September 2016 zur Einleitung des Disziplinarverfahrens nach § 4 Satz 1 WDO i.V.m. § 28 Abs. 2 SBG geäußert. Soweit es der Vertrauensperson unmöglich gewesen sein sollte, mit der erkrankten Soldatin vorher Kontakt aufzunehmen, liegt darin kein Verfahrensmangel. Denn eine Aussprache zwischen der Vertrauensperson und dem angeschuldigten Soldaten ist nicht zwingend vorgeschrieben. Vielmehr entscheidet die Vertrauensperson in sachlicher Unabhängigkeit darüber, ob sie eine Aussprache mit der angeschuldigten Soldatin für ihre Stellungnahme benötigt. Dies war anscheinend nicht der Fall. Die Zustimmung der Vertrauensperson zur Einleitung des Disziplinarverfahrens wurde dem Verteidiger der früheren Soldatin auch am 2. September 2016 übermittelt, sodass es ihm oder seinem Urlaubsvertreter möglich war, sich binnen der verbliebenen zehn Tage dazu zu äußern. Auf eine Belehrung der Vertrauensperson über die Pflicht, ggf. als Zeuge über ein Gespräch mit der früheren Soldatin aussagen zu müssen, kam es nicht an, weil ein solches Gespräch nicht stattgefunden hat.
Rz. 21
2. Aufgrund der verfahrensfehlerfreien Tat- und Schuldfeststellungen des Truppendienstgerichts steht für den Senat bindend fest, dass die frühere Soldatin den angeschuldigten 24fachen Reisekostenbetrug mit 8facher Urkundenfälschung begangen und dass sie dadurch vorsätzlich ihre Treue-, Wahrheits- und Wohlverhaltenspflichten verletzt hat.
Rz. 22
a) Denn bei einer auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung hat der Senat seiner Entscheidung gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 327 StPO grundsätzlich die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des Truppendienstgerichts zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden. Die Bindungswirkung entfällt zwar ausnahmsweise, wenn die erstinstanzliche Entscheidung an schweren Verfahrensmängeln im Sinne von § 120 Abs. 1 Nr. 2, § 121 Abs. 2 WDO leidet (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. März 2020 - 2 WD 3.19 - juris Rn. 12 m.w.N.). Ein derartiger Verfahrensfehler lag aber bei der Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens - wie ausgeführt - nicht vor. Das truppendienstgerichtliche Urteil enthält auch keine unklaren, lückenhaften oder widersprüchlichen Feststellungen. Seine Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen stehen vielmehr im Einklang mit den nach § 84 Abs. 2 WDO grundsätzlich bindenden Feststellungen des Strafbefehls vom 16. Januar 2017 (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. März 2019 - 2 WD 11.18 - BVerwGE 165, 53 Rn. 13) und der geständigen Einlassung der früheren Soldatin. Sie sind daher im vorliegenden Berufungsverfahren zugrunde zu legen.
Rz. 23
b) Nicht bindend sind hingegen die erstinstanzlichen Feststellungen zu den Beweggründen der früheren Soldatin. Das Tatmotiv ist in der Regel nur für die Maßnahmebemessung von Bedeutung, so dass die diesbezüglichen Feststellungen im Rahmen einer maßnahmebeschränkten Berufung überprüft werden können. Allerdings ist auch bei Berücksichtigung der im Berufungsverfahren ergänzend vorgelegten Beweismittel die Einlassung der früheren Soldatin unglaubhaft, dass sie bei dem Dienstvergehen aus Zukunftsangst "neben sich" gewesen sei. Dagegen spricht schon, dass keine einmalige, möglicherweise kopflos begangene Tat vorliegt, sondern eine fast einjährige planvolle kriminelle Aktivität, die aus der Ausarbeitung von 44 wahrheitswidrigen Erklärungen und dem Anfertigen von zahlreichen Scheinbelegen bestanden hat.
Rz. 24
Nicht plausibel ist auch das Vorbringen, dass die Sorge um das medizinische Wohl der Tochter die Triebfeder ihres Handels gewesen sei. Zwar ist ihr Kind tatsächlich herzkrank zur Welt gekommen und hat an einer Hämangiomatose gelitten. Als die frühere Soldatin mit ihren Betrugstaten im September 2014 begann, war ihre Tochter aber bereits über ein Jahr alt, seit längerem aus dem Krankenhaus entlassen und dank erfolgversprechender pharmakologischer Behandlung auf dem Weg der Ausheilung. Dies folgt aus den vorgelegten Arztbriefen von Dr. med. B, Dr. med. C und Prof. Dr. med. D vom 22. November 2013, vom 13. Dezember 2013, vom 3. Januar 2014 und vom 24. September 2014. Es bestand also weder ein akutes medizinisches Problem noch ein aktuelles finanzielles Problem.
Rz. 25
Zugleich wusste die frühere Soldatin, dass sie noch zwei Jahre im Dienst sein würde und dass ihr familiärer Lebensunterhalt durch Übergangsgebührnisse weitere drei Jahre abgesichert war. Da Zeitsoldaten frühzeitig über die mit einer mehrjährigen Verpflichtung verbundenen Vorteile informiert werden, ist es völlig unglaubhaft, wenn die frühere Soldatin behauptet, über diese Absicherung nicht hinreichend informiert gewesen zu sein. Vielmehr hat sie mit dem Karrierecenter der Bundeswehr frühzeitig mehrere Gespräche über ihre Zukunft nach der Bundeswehr geführt. Am 19. und 20. März 2014 wurde sie darüber unterrichtet, welche Auswirkungen eine Anschlussbeschäftigung im öffentlichen Dienst auf ihren Anspruch auf Übergangsgebührnisse hätte. Daher muss ihr die damit verbundene Unterhaltssicherung klar gewesen sein. Dass die im Reisekostenrecht gut informierte frühere Soldatin in Bezug auf ihre Versorgungsansprüche weitgehend ahnungslos gewesen sein soll, ist demnach auszuschließen.
Rz. 26
Schließlich hatte die frühere Soldatin für sich und ihre Tochter eine private Zusatzversicherung abgeschlossen, die in großem Umfang von der Heilfürsorge oder Beihilfe nicht übernommene medizinische Kosten abdeckte. Es bestand also keine Notwendigkeit, illegal Geld für die Bezahlung von Arztrechnungen oder Medikamenten aufzutreiben. Dass die frühere Soldatin letztlich das durch Betrug erlangte Kapital nicht für künftige Behandlungskosten aufgespart hat, spricht ebenfalls gegen das behauptete Motiv, für das medizinische Wohl der Tochter gehandelt zu haben. Diese Einlassung ist auch nicht dadurch plausibler geworden, dass der Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung Zahlungsbelege für Arztbehandlungen und Medikamentenrechnungen vorgelegt hat. Es ist nicht ersichtlich, dass die frühere Soldatin dafür keine Erstattungsleistungen bezogen hätte; auch ist keine Notwendigkeit dafür erkennbar, voll abgesicherte medizinische Behandlungskosten durch Reisekostenbetrug zu finanzieren.
Rz. 27
Vielmehr lässt die durch Konsumenten- und Überziehungskredite belastete Einnahmen- und Ausgabenübersicht der früheren Soldatin erkennen, dass ihr wirtschaftliches Verhalten gerade nicht auf Vorsorge für langfristig anstehende medizinische Kosten oder künftige finanzielle Belastungen ausgelegt war. Sämtliche Einnahmen einschließlich der durch Reisekostenbetrug erzielten 6 100 € sind weitgehend zur Befriedigung aktueller Konsumbedürfnisse und momentan anstehender Ausgaben verwendet worden. Dies lässt darauf schließen, dass der wahre Beweggrund der früheren Soldatin für ihre Taten darin bestand, durch die Erschließung einer illegalen Finanzquelle ansonsten notwendige und ihr unangenehme Schritte, einen erheblichen Konsumverzicht oder eine Klage auf Unterhalt gegenüber dem Kindsvater, zu vermeiden.
Rz. 28
3. Bei Art und Maß der für das Dienstvergehen zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind nach § 58 Abs. 7 i.V.m. § 38 Abs. 1 WDO Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des Soldaten zu berücksichtigen. Im Einzelnen legt der Senat ein zweistufiges Prüfungsschema zugrunde:
Rz. 29
a) Auf der ersten Stufe bestimmt er zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle und im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die betreffende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen. Dies ist bei vorsätzlicher Schädigung des Dienstherrn bzw. Gefährdung seines Vermögens durch einen Reisekosten- oder Trennungsgeldbetrug eine Dienstgradherabsetzung (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. Dezember 2017 - 2 WD 5.17 - Buchholz 450.2 § 58 WDO 2002 Nr. 12 Rn. 70 und vom 14. Mai 2020 - 2 WD 12.19 - juris Rn. 12).
Rz. 30
b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 WDO und die Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts Umstände vorliegen, die eine Milderung oder Verschärfung gegenüber der auf der ersten Stufe in Ansatz gebrachten Regelmaßnahme gebieten. Dabei ist zu klären, ob es sich angesichts der be- und entlastenden Umstände um einen schweren, mittleren oder leichten Fall der schuldhaften Pflichtverletzung handelt. Liegt kein mittlerer, sondern ein höherer bzw. niedrigerer Schweregrad vor, ist gegenüber dem Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die zu verhängende Disziplinarmaßnahme nach "oben" bzw. nach "unten" zu modifizieren. Zusätzlich sind die gesetzlichen Bemessungskriterien für die Bestimmung der konkreten Situation zu gewichten, wenn die Maßnahmeart, die den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet, dem Wehrdienstgericht hinsichtlich des Disziplinarmaßes einen Spielraum eröffnet. Eine Maßnahmemilderung kann zudem wegen einer überlangen Verfahrensdauer geboten sein.
Rz. 31
Nach Maßgabe dessen liegen derart erschwerende Umstände vor, dass von der Regelmaßnahme zur Höchstmaßnahme überzugehen ist. Zwar ist der Vermögensschaden mit ca. 6 100 € noch nicht fünfstellig, so dass nicht schon die Schadenshöhe die Höchstmaßnahme indiziert (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. Dezember 2017 - 2 WD 5.17 - Buchholz 450.2 § 58 WDO 2002 Nr. 12 Rn. 73). Jedoch weist das Dienstvergehen insbesondere im Hinblick auf die Vorgehensweise und Dauer einen wesentlich höheren Schweregrad auf als sonstige Fälle des Reisekostenbetrugs. Denn die frühere Soldatin hat zum einen über einen langen Zeitraum von nahezu einem Jahr und zum anderen in 24 Fällen den Entschluss gefasst, bei ihrem Dienstherrn ihr nicht zustehende Leistungen mit insgesamt 44 unrichtigen Erklärungen einzureichen. Zuvor hat sie zu diesem Zweck acht falsche Urkunden und etliche gefälschte E-Mails erstellt. Die darin zum Ausdruck kommende kriminelle Energie ist weit höher als in vergleichbaren Fällen und die darin liegenden Wahrheitspflichtverletzungen zerstören das Vertrauen des Dienstherrn in die persönliche Integrität und dienstliche Zuverlässigkeit der früheren Soldatin. Das gewohnheitsmäßige Handeln über einen längeren Zeitraum zum Erschleichen eines Nebenverdienstes steigert das Gewicht des Dienstvergehens so erheblich, dass die Höchstmaßnahme tatangemessen erscheint (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Februar 2019 - 2 WD 18.18 - Buchholz 450.2 § 63 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 38).
Rz. 32
Eigenart und Schwere des Dienstvergehens werden des Weiteren dadurch bestimmt, dass die frühere Soldatin aufgrund ihres Dienstgrades als Stabsunteroffizier in einem Vorgesetztenverhältnis stand (§ 1 Abs. 3 Satz 1 und 2 SG i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 VorgV). Soldaten in Vorgesetztenstellung obliegt eine höhere Verantwortung für die Wahrung dienstlicher Interessen. Wegen seiner herausgehobenen Stellung ist ein Vorgesetzter in besonderem Maße für die ordnungsgemäße Erfüllung seiner Dienstpflichten verantwortlich und unterliegt damit im Falle einer Pflichtverletzung einer verschärften Haftung, da Vorgesetzte in ihrer Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel geben sollen (§ 10 Abs. 1 SG). Dabei ist nicht erforderlich, dass es der Soldat bei seinem Fehlverhalten innerhalb eines konkreten Vorgesetztenverhältnisses an Beispielhaftigkeit hat fehlen lassen. Es reicht das Innehaben einer Vorgesetztenstellung aufgrund des Dienstgrades aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 WD 2.10 - juris Rn. 30).
Rz. 33
Das Dienstvergehen hatte darüber hinaus erhebliche nachteilige Auswirkungen für den Dienstherrn. Neben der beträchtlichen Schädigung seines Vermögens musste er mit entsprechendem Verwaltungsaufwand die Überzahlungen zurückfordern (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2020 - 2 WD 12.19 - juris Rn. 18).
Rz. 34
Diesen erschwerenden Umständen stehen keine Milderungsgründe von erheblichem Gewicht gegenüber. Milderungsgründe müssen umso gewichtiger sein, je schwerer das Dienstvergehen wiegt (vgl. BVerwG, Urteile vom 15. März 2013 - 2 WD 15.11 - juris Rn. 43 und vom 2. Mai 2019 - 2 WD 15.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 63 Rn. 24). Das Maß der Schuld der uneingeschränkt schuldfähigen früheren Soldatin wird in erster Linie durch ihr vorsätzliches Handeln geprägt. Die Beweggründe der früheren Soldatin waren eigennützig darauf gerichtet, durch das Erschließen einer illegalen Finanzquelle ansonsten notwendige und ihr unangenehme wirtschaftliche Schritte zu vermeiden. Milderungsgründe in den Umständen der Tat oder in der Person der früheren Soldatin liegen nicht vor. Zwar war sie im Tatzeitraum wegen der Erkrankung ihres Kindes einer erhöhten familiären Belastungssituation ausgesetzt. Es ist aber nicht ersichtlich, dass diese von so außergewöhnlichen Besonderheiten gekennzeichnet war, dass ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet werden konnte.
Rz. 35
Hinsichtlich der Bemessungskriterien "Persönlichkeit" und "bisherige Führung" spricht zu ihren Gunsten, dass sie sich in einem Auslandseinsatz bewährt hat. Gegen die frühere Soldatin sprechen ihre ansonsten mäßigen Leistungen, die im Durchschnittswert der Aufgabenerfüllung mit 3,50 beurteilt wurden. Damit wurde sie sehr deutlich im hinteren Drittel der Unteroffiziere ohne Portepee eingeordnet. Ein negatives Licht auf ihre Persönlichkeit wirft auch der Umstand, dass sie - nach Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens und - bei laufender strafrechtlicher Bewährungsfrist nochmals 2018 strafrechtlich relevant in Erscheinung getreten und nunmehr ein weiteres Mal vorbestraft ist.
Rz. 36
Ihrem Geständnis der Taten kommt bei vollständiger Überführung keine besonders entlastende Bedeutung zu. Da durch das Geständnis aber die straf- und disziplinargerichtlichen Verfahren erheblich erleichtert worden sind, ist es - wie die Berufung zu Recht vorträgt - in gewissem Umfang mildernd einzustellen. Dass die frühere Soldatin die betrügerisch erlangten Reisekostenzahlungen zurückgeführt hat, wirkt angesichts der von Amts wegen durchgeführten Aufrechnungen bzw. Gehaltspfändungen nicht mildernd.
Rz. 37
c) Insgesamt erreichen die mildernden Umstände der Bewährung im Auslandseinsatz, der familiären Belastungssituation, des Geständnisses und der Reue nicht ein solches Gewicht, dass sie die Erschwerungsgründe aufwiegen würden und dass von der Höchstmaßnahme abzusehen wäre. Dem objektiv eingetretenen Vertrauensverlust entspricht die vom Truppendienstgericht verhängte Höchstmaßnahme der Aberkennung des Ruhegehalts. Angesichts des endgültig zerstörten Vertrauensverhältnisses kann eine unangemessen lange Dauer des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nicht mehr maßnahmemildernd berücksichtigt werden (vgl. BVerwG, Urteile vom 2. November 2017 - 2 WD 3.17 - juris Rn. 77 und vom 14. Februar 2019 - 2 WD 18.18 - Buchholz 450.2 § 63 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 42).
Rz. 38
4. Da das Rechtsmittel der früheren Soldatin keinen Erfolg hat, sind ihr die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der ihr darin erwachsenen notwendigen Auslagen aufzuerlegen (§ 139 Abs. 2, § 140 Abs. 5 Satz 2 WDO).
Fundstellen
ZBR 2021, 213 |
JZ 2021, 178 |