Entscheidungsstichwort (Thema)
Abweichensklausel. Aktenvortrag. Bewertung von Prüfungsleistungen. Chancengleichheit. Gesamteindruck aller Prüfungsleistungen. mündliche Prüfung. Prüfungsleistung. Prüfungsteil. Notenverbesserung. Rechtsschutz. Verfahrensdauer. Verschlechterungsverbot. vorläufiger Rechtsschutz. zweite juristische Staatsprüfung
Leitsatz (amtlich)
Kann der Prüfling wegen Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidung die nochmalige Ablegung der Prüfung verlangen, so ist das erneute Prüfungsverfahren in Ermangelung einer normativen Regelung der Fehlerfolgen so zu gestalten, dass der Prüfling durch dieses Verfahren den geringstmöglichen Nachteil erleidet. Diesem Gesichtspunkt wird in der Regel dadurch entsprochen, dass der Prüfling lediglich denjenigen selbständig zu bewertenden Prüfungsteil erneut abzulegen hat, dem der rechtserhebliche Mangel anhaftet.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1; VwGO § 86 Abs. 1 S. 1, § 108 Abs. 1 S. 2; DRiG § 5d Abs. 4; NJAG §§ 9, 13; NJAVO §§ 8-9, 39
Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Entscheidung vom 21.11.2000; Aktenzeichen 10 L 4545/99) |
VG Osnabrück (Entscheidung vom 03.12.1997; Aktenzeichen 3 A 75/96) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 21. November 2000 geändert. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Wiederholung nur des Aktenvortrags zu gestatten und sodann über das Ergebnis der zweiten juristischen Staatsprüfung erneut zu entscheiden. Im Übrigen wird die Revision des Klägers zurückgewiesen.
Die Revision des Beklagten wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens tragen der Kläger ein Viertel und der Beklagte drei Viertel; die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen der Kläger und der Beklagte je zur Hälfte.
Tatbestand
I.
Der Kläger bestand am 22. März 1996 die zweite juristische Staatsprüfung mit der Note befriedigend (8,57 Punkte). Einwendungen des Klägers gegen die Bewertung einzelner Prüfungsleistungen und die Nichtanwendung der Abweichensklausel nach § 8 Abs. 2 NJAVO wies der Beklagte zurück. Die auf Neubescheidung gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen.
Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung – unter Zurückweisung im Übrigen – insoweit stattgegeben, als es den Beklagten verpflichtet hat, dem Kläger die Wiederholung der gesamten mündlichen Prüfung einschließlich der vorbereitenden Teilnahme an den vom Beklagten für Rechtsreferendare angebotenen Arbeitsgemeinschaften zur Prüfungsvorbereitung zu gestatten und über das Ergebnis der zweiten juristischen Staatsprüfung unter Beachtung der Abweichensklausel erneut zu entscheiden. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Neubewertung der Klausuren im Zivilrecht und im öffentlichen Recht. Insoweit lägen Bewertungsfehler nicht vor. Ein solcher Fehler sei aber hinsichtlich des Aktenvortrags gegeben. Eine Neubewertung komme nicht in Betracht. Daher sei die mündliche Prüfung nochmals und zwar insgesamt durchzuführen. Diese bestehe aus dem Aktenvortrag und den vier Prüfungsgesprächen. Die für den Kläger durch die Verfahrensdauer entstandene Härte hätte er im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes mit dem Ziel einer vorsorglichen Wiederholung der mündlichen Prüfung vermeiden können. Auch im Fall der Notenverbesserung stehe einem Prüfling ein Folgenbeseitigungsanspruch zu. Der Kläger sei durch die Rechtswidrigkeit der mündlichen Prüfung gezwungen, die mündliche Prüfung insgesamt zu wiederholen. Darauf müsse er sich vorbereiten. Im Interesse der Chancengleichheit müsse dies in einer Weise erfolgen, wie dies ein Rechtsreferendar üblicherweise tue. Dazu gehöre die Teilnahme an den vom Beklagten veranstalteten Arbeitsgemeinschaften.
Der Kläger wendet sich mit der Revision gegen die rechtliche Würdigung der Bewertung der Klausuren im Zivil- und im öffentlichen Recht sowie dagegen, dass er die gesamte mündliche Prüfung wiederholen muss. Er beantragt,
- unter Abänderung des Urteils des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 21. November 2000 den Revisionsbeklagten zu verpflichten,
- die Z-Klausur unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bewerten, die vom Zweitkorrektor der V-Klausur gegebene Note zu begründen, die bewertungsfehlerhafte Erstkorrektur der V-Klausur durch eine Neubewertung zu ersetzen, den Kläger lediglich im Aktenvortrag erneut mündlich zu prüfen und unter Beachtung der Abweichensklausel erneut über das Ergebnis des Assessorexamens zu bescheiden,
- hilfsweise die V-Klausur bezüglich der Zweitkorrektur erneut zu bewerten und bei einer etwaigen vollumfänglich neuen mündlichen Prüfung dem Revisionskläger mindestens die bisher erzielten Noten zu geben,
- höchst hilfsweise, den Revisionskläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Der Beklagte stützt seine Revision im Wesentlichen darauf, dass die Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs nicht gegeben seien. Er beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 21. November 2000 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 3. Dezember 1997 zurückzuweisen.
Die Beteiligten treten jeweils der Revision der Gegenseite entgegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als er nach dem Ausspruch des Oberverwaltungsgerichts eine Notenverbesserung nur durch Wiederholung der gesamten mündlichen Prüfung erzielen kann. Insoweit beruht das angefochtene Urteil auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Dies führt zu einer Entscheidung in der Sache selbst (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Im Übrigen bleiben die Revisionen des Klägers und des Beklagten ohne Erfolg und sind zurückzuweisen.
1. Die Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts zur Bewertung der Prüfungsleistungen sind revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.
a) Die Rüge des Klägers, seine Lösung der Zivilrechtsklausur sei in einem bestimmten Punkt vertretbar und das Oberverwaltungsgericht hätte insoweit unrichtigerweise keinen Bewertungsfehler festgestellt, greift nicht durch. Die Frage, ob eine in einer juristischen Klausur aufgeworfene Frage vertretbar bearbeitet worden ist, stellt nämlich eine Fachfrage dar, an deren Beantwortung durch den Tatrichter das Bundesverwaltungsgericht bei Fehlen zulässiger und begründeter Verfahrensrügen gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden ist (Beschluss vom 17. Dezember 1997 – BVerwG 6 B 55.97 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 385; Urteil vom 14. Juli 1999 – BVerwG 6 C 20.98 – BVerwGE 109, 211, 221; grundlegend Urteile vom 24. Februar 1993 – BVerwG 6 C 38.92 – und vom 21. Oktober 1993 – BVerwG 6 C 12.92 – Buchholz a.a.O. Nr. 314 S. 275 f. und Nr. 320 S. 309; vgl. ferner Urteil vom 4. Mai 1999 – BVerwG 6 C 13.98 – Buchholz a.a.O. Nr. 395 S. 19). Verfahrensrügen hat der Kläger insoweit nicht erhoben.
b) Ohne Erfolg bleiben auch die Rügen des Klägers in Bezug auf die Beurteilung der öffentlich-rechtlichen Klausur (V-Klausur).
aa) Der Kläger wendet sich gegen die Erstbeurteilung der V-Klausur, weil in ihr nach der unter Hinweis auf bestimmte Rechtsvorschriften erläuterten Feststellung, die Verfasserin/der Verfasser lege einen Entwurf vor, der sich von anderen Arbeiten unterscheide, bemerkt wird, offenbar habe die Verfasserin/der Verfasser besondere Kenntnisse aus dem Fachhochschulbereich der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege mitgebracht, und sodann die zugrunde liegende Auslegung als zu eng eingeschätzt wird. Der Kläger sieht einen Bewertungsfehler darin, dass in der Notenbegründung Spekulationen über den beruflichen Werdegang des Prüflings angestellt würden, die sich zu seinem Nachteil ausgewirkt haben könnten.
Der erkennende Senat kann der Prüferbemerkung zur möglichen Herkunft der in der Klausurlösung vertretenen Rechtsauffassung keinen Hinweis darauf entnehmen, dass der Erstbeurteiler sich von sachfremden Erwägungen leiten ließ. Vielmehr handelt es sich um eine beiläufige Anmerkung ohne negativen Aussagegehalt. Ein Einfluss auf das Prüfungsergebnis ist ohne weiteres auszuschließen. Die Rüge des Klägers wäre allenfalls dann schlüssig, wenn es einen Rechtskandidaten nach Ansicht des Erstbeurteilers diskreditierte, mit der genannten Fachhochschule in Zusammenhang gebracht zu werden. Eine derartige Einstellung des Erstbeurteilers darzulegen und unter Beweis zu stellen, hat der Kläger nicht unternommen.
bb) Die zur Zweitbeurteilung erhobenen Verfahrensrügen sind – ihre im Hinblick auf die Darlegungsanforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO zweifelhafte Zulässigkeit unterstellt – unbegründet.
Der Erstbeurteiler hat die V-Klausur unter näherer Begründung mit der Note gut (13 Punkte) bewertet. Der Zweitbeurteiler hat ohne weitere Ausführungen die Beurteilung „gut 13 P” angefügt. Das Oberverwaltungsgericht hat ausgeführt: Eine fehlerhafte Benotung liege nicht vor. Ein Zweitkorrektor könne sich der Erstbeurteilung mit dem Vermerk „Einverstanden” anschließen. Dieses Einverständnis liege hier darin, dass sich der Zweitkorrektor durch Wiederholung derselben Note und Punktzahl der Beurteilung des Erstkorrektors angeschlossen habe.
Der Kläger rügt: Die tatrichterliche Würdigung verstoße gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze. Der Zweitprüfer könne nur dann konkludent auf die Erstbegründung Bezug genommen haben, wenn er nicht über seine eigene Pflicht zur Notenbegründung geirrt habe. Ein solcher Verfahrensmangel habe nur dann ausgeschlossen werden können, wenn das Oberverwaltungsgericht darüber Beweis erhoben hätte, ob dem Zweitprüfer seine Begründungspflicht bewusst gewesen sei. Die Beweiserhebung hätte auch deshalb nahe gelegen, weil der Beklagte nicht ausgeschlossen habe, dass der Zweitkorrektor seine Bewertungen generell nicht begründet habe. Zudem habe sich der Erstkorrektor mit seinen Spekulationen über den beruflichen Werdegang des Prüflings unsachlich geäußert, was gegen eine Bezugnahme des Zweitprüfers auf die Erstbegründung spreche. Das Oberverwaltungsgericht habe gegen § 86 Abs. 1 VwGO verstoßen.
Der Kläger hat einen Verstoß gegen die Denkgesetze nicht schlüssig dargetan. Ein solcher kommt zwar als Verfahrensmangel in Betracht, wenn logische Mängel bei der Anwendung von Beweisregeln zur Debatte stehen (vgl. BVerwGE 84, 271 f.; 96, 200, 208 f.; Beschluss vom 3. April 1996 – BVerwG 4 B 253.95 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 269). Einen solchen Mangel zeigt die Revision indes nicht auf. In Wirklichkeit hält sie dem Oberverwaltungsgericht vor, ein Element seiner Erwägungskette nicht in die Urteilsbegründung aufgenommen zu haben, nämlich den Willen des Zweitprüfers, mit der Kundgabe der Benotung eine eigene Begründung abgeben zu wollen. Um einen Denkverstoß zu belegen, genügt es nicht, auf einen Begründungsmangel der angefochtenen Entscheidung hinzuweisen, die in sich folgerichtig sein kann. Dem Revisionsvorbringen lässt sich ferner nicht entnehmen, mit welchem allgemeinen Erfahrungssatz das angefochtene Urteil unvereinbar sein könnte.
Die Verfahrensrüge bleibt aber auch dann ohne Erfolg, wenn mit ihr eine Verletzung der richterlichen Begründungspflicht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO geltend gemacht werden sollte. Ein Gericht kann sich bei der Begründung seiner Entscheidung auf die wesentlichen Erwägungen beschränken und ist nicht verpflichtet, auf alle Einzelheiten des Beteiligtenvortrags einzugehen (stRspr; vgl. Beschluss vom 12. Juli 1999 – BVerwG 9 B 374.99 – Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 43). Die Revision zeigt nicht auf, inwiefern das Oberverwaltungsgericht auf die nicht durch Hinweistatsachen belegte Behauptung des Klägers, der Zweitprüfer sei sich seiner Begründungspflicht möglicherweise nicht bewusst gewesen, hätte eingehen müssen. Dies gilt umso mehr, als der anwaltlich vertretene Kläger in der mündlichen Verhandlung des Oberverwaltungsgerichts seine Behauptung nicht unter Beweis gestellt hat.
Auch ein Verstoß gegen die Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) ist nicht dargetan. Dem Revisionsvorbringen lässt sich nicht entnehmen, inwiefern sich dem Oberverwaltungsgericht eine Beweiserhebung zum genannten Thema hätte aufdrängen müssen. Der Bevollmächtigte des Klägers hat keinen Beweisantrag gestellt. Sein sinngemäßer Vortrag, dem Zweitkorrektor könne nicht unterstellt werden, sich einer unsachlichen Erstbeurteilung anschließen zu wollen, und deshalb müsse angenommen werden, er sei sich seiner eigenen Begründungspflicht nicht bewusst gewesen, war bereits deshalb nicht geeignet, dem Oberverwaltungsgericht weitere Ermittlungen nahe zu legen, weil die Bemerkung des Erstkorrektors zur Herkunft der Kenntnisse aus dem Fachhochschulbereich, aus der der Kläger die Voreingenommenheit des Erstbeurteilers ableitet, bei objektiver Würdigung, wie dargelegt, nicht in dem vom Kläger vorgebrachten Sinn verstanden werden kann.
c) Der Beklagte hat erstmals in der mündlichen Verhandlung des erkennenden Senats geltend gemacht, das Oberverwaltungsgericht habe rechtsfehlerhaft einen Bewertungsfehler bei der Benotung des Aktenvortrags festgestellt. Zur Begründung hat er vorgetragen, die angegriffene Benotung beruhe auf einer der gerichtlichen Überprüfung grundsätzlich nicht zugänglichen Bewertung des Prüfungsausschusses und nicht darauf, dass der Prüfungsausschuss zu Unrecht einen Antwortspielraum des Prüflings verneint habe; dies habe das Oberverwaltungsgericht verkannt.
Es kann offen bleiben, ob der Beklagte insoweit den Anforderungen des § 139 Abs. 3 VwGO an die Begründung der Revision gerecht geworden ist. Die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Zwar mögen im Berufungsurteil gebrauchte Wendungen missverständlich sein. Für die angegriffene Entscheidung tragend ist indes allein die vom Beklagten mit Revisionsrügen nicht angegriffene Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, dass die (wertenden) Bemerkungen der Mitglieder des Prüfungsausschusses nur schlüssig vor dem Hintergrund einer allein als richtig bzw. vertretbar angesehenen Lösung nach einer bestimmten Vorschrift sind (Berufungsurteil S. 10). Die Frage, ob die vom Kläger entwickelte Lösung vertretbar ist, betrifft demnach die tatsächlichen Grundlagen der Prüferentscheidung und ist als solche gerichtlicher Überprüfung zugänglich. Zu Recht hat daher das Oberverwaltungsgericht aus dem Bestehen eines Antwortspielraums auf Seiten des Klägers einen Bewertungsfehler abgeleitet. Ein Übergriff in Bewertungsspielräume der Prüfer liegt nicht vor.
2. Mit Bundesrecht steht hingegen die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts nicht im Einklang, dass sich der Kläger nochmals der gesamten mündlichen Prüfung unterziehen müsse, um die erwünschte Notenverbesserung zu erlangen. Nachzuholen ist lediglich der freie Aktenvortrag mit dem anschließenden kurzen Vertiefungsgespräch (§ 39 Abs. 1 und 3 NJAVO). Das Ergebnis der zweiten juristischen Staatsprüfung ist sodann unter Berücksichtigung der dabei erzielten Note und unter Anwendung des § 8 Abs. 2 NJAVO neu zu ermitteln.
a) Nach dem in Art. 12 Abs. 1 GG i.V. mit Art. 3 Abs. 1 GG verankerten Gebot der Chancengleichheit im Prüfungsrecht darf es einem Prüfling weder zum Vorteil noch zum Nachteil gereichen, dass er die Anerkennung eines Bewertungsfehlers in einem gerichtlichen Verfahren erstreiten muss. Vielmehr müssen so weit wie möglich vergleichbare Prüfungsbedingungen und Bewertungskriterien gelten (vgl. BVerfGE 84, 34, 52). Kann ein fehlerhaft bewerteter Prüfungsteil nicht neu bewertet werden, wie das namentlich bei mündlichen Prüfungen nach gewisser Zeit und so auch hier der Fall ist, muss die Prüfungsleistung erneut erbracht werden (vgl. Beschluss vom 11. April 1996 – BVerwG 6 B 13.96 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 363 = NVwZ 1997, 502). Liegt die Prüfung längere Zeit zurück, bringt die Wiederholung zusätzliche Belastungen für den Prüfling zumal dann mit sich, wenn er sich inzwischen im Beruf befindet. Die erneute Prüfung ist in einem derartigen Fall so zu gestalten, dass durch den Zeitablauf hervorgerufene Erschwernisse der Prüfung im Interesse des Prüflings im gebotenen Umfang aufgefangen werden.
Die dafür erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, ist in erster Linie Aufgabe des zuständigen Normgebers. Bei Fehlen einer normativen Bestimmung sind die Gerichte aufgerufen, die Lücke in der Regelung des Prüfungsablaufs unter dem erwähnten Gesichtspunkt zu schließen, dass der Prüfling bei der erneuten Prüfung den geringstmöglichen Nachteil erleidet (vgl. Urteil vom 10. Juli 1964 – BVerwG 7 C 82.64 – NJW 1965, 122). Diesem Gesichtspunkt wird in der Regel dadurch entsprochen, dass der Prüfling lediglich denjenigen selbständig zu bewertenden Prüfungsteil, dem der rechtserhebliche Mangel anhaftet, erneut abzulegen hat. Allerdings kann es das Ziel der nachträglichen Herstellung der Chancengleichheit auch erforderlich machen, aufgrund einer Gesamtwürdigung der Umstände die Rechtsfolgen der gerichtlichen Entscheidung einzelfallbezogen zu ermitteln. Regelungen, die für den normalen Prüfungsablauf gelten, stehen dem kraft höherrangigen Rechts nicht entgegen, soweit dies zur Herstellung der Chancengleichheit des im Klagewege erfolgreichen Prüflings geboten ist (vgl. Urteil vom 10. Juli 1964, a.a.O.; ferner Urteil vom 6. September 1995 – BVerwG 6 C 16.93 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 355 S. 102 f.).
b) Das Oberverwaltungsgericht hat dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juli 1987 – BVerwG 7 C 118.86 – (Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 242) den Rechtssatz entnommen, dass die mündliche Prüfung der zweiten juristischen Staatsprüfung in jedem Fall insgesamt zu wiederholen sei. Dieses Urteil enthält einen solchen Satz des Bundesrechts indes nicht. Er lässt sich auch nicht anderweit herleiten. Das Oberverwaltungsgericht hat es daher in der Folge unter Verstoß gegen das bundesrechtliche Gebot der Chancengleichheit im Prüfungsrecht unterlassen, die dargelegten Grundsätze zu seiner Herstellung zugunsten des Klägers anzuwenden.
Der seinerzeit für das Prüfungsrecht zuständige 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat in der genannten Entscheidung ausgeführt, nach dem maßgeblichen nordrhein-westfälischen Justizprüfungsrecht sei die mündliche Prüfung als eine Einheit konzipiert, die nicht zum Nachteil des Prüflings zerrissen werden dürfe, und es würde den Kläger benachteiligen, die erneute Prüfung auf das (sc. fehlerbehaftete) Prüfungsgespräch zu beschränken (a.a.O. S. 16). Damit ist nicht ausgeschlossen worden, dass einem Prüfling, dessen Klage in Bezug auf einen Teil der mündlichen Prüfung erfolgreich ist, lediglich diesen Teil erneut abzulegen hat, wenn diese Beschränkung für ihn bei objektiver Betrachtungsweise nicht nachteilig ist.
Die weiteren Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts führen zu keinem anderen Ergebnis. Ihnen lässt sich nicht entnehmen, dass die auch nach niedersächsischem Landesrecht als Einheit konzipierte mündliche Prüfung der zweiten juristischen Staatsprüfung selbst dann insgesamt zu wiederholen ist, wenn nach mehrjährigem gerichtlichen Verfahren festgestellt wird, dass lediglich ein Prüfungsteil fehlerbehaftet ist.
Das Oberverwaltungsgericht hat die das Einwendungsverfahren betreffende Bestimmung des § 13 Abs. 4 Satz 2 NJAG a.F., derzufolge im Fall eines vom Landesjustizprüfungsamt festgestellten Bewertungsfehlers „die mündliche Prüfung wiederholt” wird, nicht, wie der Kläger meint, unmittelbar oder entsprechend auf die vorliegende Fallgestaltung angewendet. Vielmehr hat das Oberverwaltungsgericht die Vorschrift lediglich als weiteren Gesichtspunkt für die Einheit der aus dem Aktenvortrag samt Vertiefungsgespräch und vier Prüfungsgesprächen bestehenden mündlichen Prüfung auch im Wiederholungsfalle herangezogen, ohne auf die besondere Problematik einzugehen, die sich aus der Übertragung des in ihr möglicherweise enthaltenen und vom Oberverwaltungsgericht auch gar nicht entwickelten Rechtsgedankens auf Fallgestaltungen wie hier ergäben.
Da bei der Korrektur einer rechtsfehlerhaft durchgeführten Prüfung Abweichungen vom normalen Prüfungsablauf hinzunehmen sind, steht die Vorschrift des § 8 Abs. 2 NJAVO, mit der die Regelungen des § 5 d Abs. 4 DRiG landesrechtlich umgesetzt worden sind, entgegen der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts der hier erörterten Teilbarkeit der mündlichen Prüfung nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift kann der Prüfungsausschuss nach pflichtgemäßem Ermessen von der aus den Punktzahlen der einzelnen Prüfungsleistungen errechneten Punktzahl bis zu einem Punkt abweichen, wenn dies aufgrund des Gesamteindrucks aller Prüfungsleistungen den Leistungsstand des Prüflings besser kennzeichnet und die Abweichung auf das Bestehen keinen Einfluss hat; in der zweiten Staatsprüfung sind auch die Leistungen im Vorbereitungsdienst zu berücksichtigen. Zum Gesamteindruck aller Prüfungsleistungen gehört grundsätzlich der durch die mündliche Prüfung als ganze vermittelte Eindruck. Dieser mag praktisch von besonderer Bedeutung sein, ist jedoch aus dem genannten Grunde nicht unverzichtbar. So hat der zuständige Prüfungsausschuss das ihm für begrenzte Ausnahmefälle eingeräumte Ermessen (vgl. dazu Beschluss vom 2. November 1994 – BVerwG 6 B 62.94 –, Urteil vom 12. Juli 1995 – BVerwG 6 C 12.93 – und Beschluss vom 11. Juli 1996 – BVerwG 6 B 22.96 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 340, 354 bzw. 369 jeweils m.w.N.) beispielsweise auch dann auszuüben, wenn schriftliche Arbeiten neu bewertet worden sind und die mündliche Prüfung nur noch in Gestalt der Niederschrift (§ 9 NJAVO) und der erzielten Noten gegenwärtig ist. Werden mündliche Prüfungsleistungen nicht insgesamt, sondern nur teilweise erneut erbracht, kann und hat der Prüfungsausschuss die Ergebnisse der schriftlichen Arbeiten, die Dokumente über die unangefochtenen mündlichen Leistungen und den aktuellen Eindruck der mündlichen Verhandlung in seine Beurteilung aufzunehmen.
Die weitere Erwägung, ein Prüfling könne die Nachteile infolge der langen Verfahrensdauer des Verfahrens durch eine zeitnahe Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes mit dem Ziel einer baldigen vorsorglichen Wiederholung der mündlichen Prüfung mindern, rechtfertigt die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ebenfalls nicht. Es kann offen bleiben, in welchen Fällen es einem Prüfling zur Vermeidung von Rechtsnachteilen obliegen könnte, die vom erkennenden Senat mit Beschluss vom 11. April 1996 (a.a.O.) aufgezeigteMöglichkeit wahrzunehmen, im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes unausweichliche Härten abzuwenden. Im Hinblick auf die damit verbundenen Belastungen und Unwägbarkeiten, die sich vor allem aus dem von der Entscheidung in der Hauptsache abweichenden Prüfungsmaßstab ergeben, kommt dieser Möglichkeit jedenfalls keine entscheidende Bedeutung für die hier maßgebliche und im Beschluss vom 11. April 1996 nicht behandelte Frage zu, ob eine fehlerhaft bewertete mündliche Prüfungsleistung allein oder nur zusammen mit den anderen Teilen der mündlichen Prüfung erneut erbracht werden kann.
Schließlich greift der Einwand nicht durch, ein Prüfling, der sich nur auf einen Teil der mündlichen Prüfung vorbereiten müsse, habe ungerechtfertigt höhere Erfolgschancen als diejenigen, die sich der gesamten mündlichen Prüfung unterziehen müssten. Die Lage der Kandidaten, die sich regulär auf das Examen vorbereiten, ist nicht vergleichbar mit der eines Prüflings, der genötigt war, Fehler des Prüfungsausschusses vermittels der Gerichte beheben zu lassen, und der u.U. nach Jahren und parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit Prüfungsleistungen erneut zu erbringen hat. Typischerweise überwiegen die Nachteile, die Letzteren im Fall einer Gesamtwiederholung der mündlichen Prüfung träfen, denkbare Vorteile – wie etwa, was der Beklagte hervorgehoben hat, für die Prüfung nützliche berufsbedingte Kenntnisse und Fertigkeiten – in solchem Maße, dass es vor Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt und geboten ist, die Nachteile dadurch zu kompensieren, dass nur die fehlerbehafteten Prüfungsteile wiederholt werden.
c) Die Anwendung der dargestellten Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt, dass der Kläger, um seine Note zu verbessern, lediglich den rechtsfehlerhaft bewerteten Aktenvortrag zu wiederholen hat.
Ausgehend von der Regel, dass der Prüfling lediglich denjenigen selbständig zu bewertenden Prüfungsteil, dem der rechtserhebliche Mangel anhaftet, erneut abzulegen hat, folgt dies bereits daraus, dass Prüfungsgespräche und Aktenvortrag gesonderte Prüfungsleistungen sind, die jeweils für sich beurteilt und benotet werden (vgl. § 9 Abs. 1 NJAG, § 39 Abs. 1 NJAVO). Der Umstand, dass die Entscheidungen über die Ergebnisse der Prüfungsgespräche und des Aktenvortrags durch den Prüfungsausschuss getroffen werden (§ 13 Abs. 3 Satz 1 NJAG), ändert nichts daran, dass für jede Prüfungsleistung eine Benotung vorliegt, auf die bei der Gesamtnotenbildung (§ 8 Abs. 1 NJAVO) und der Ermessensausübung nach § 8 Abs. 2 NJAVO zurückgegriffen werden kann.
Auch eine Würdigung der Umstände des Falles ergibt nicht, dass sich der Kläger gleichwohl der gesamten mündlichen Prüfung zu unterziehen hätte. Der Kläger, der die mündliche Prüfung am 22. März 1996 abgelegt hat und als spezialisierter Rechtsanwalt in einem anderen Bundesland tätig ist, befindet sich in einer grundlegend anderen Situation als ein Prüfling, der sich der zweiten juristischen Staatsprüfung sogleich nach dem Abschluss des Vorbereitungsdienstes unterzieht. Die Erwägungen, aus denen heraus das Oberverwaltungsgericht den Beklagten verpflichtet hat, dem Kläger die Teilnahme an den für Rechtsreferendare angebotenen Arbeitsgemeinschaften zu gestatten, verdeutlichen die Schwierigkeiten, die der Kläger zu bewältigen hätte, müsste er die gesamte mündliche Prüfung erneut absolvieren. Darüber hinaus sprechen folgende Umstände gegen eine Wiederholung der gesamten mündlichen Prüfung.
Der Kläger hat in den Prüfungsgesprächen 8, 13, 13 und 13 Punkte erzielt und ein anerkennenswertes Interesse am Erhalt dieser Benotungen. Bei einer Gesamtwiederholung der mündlichen Prüfung wäre der Kläger nicht davor geschützt, dass die Bewertung der Prüfungsgespräche schlechter ausfällt als bei der ersten Prüfung. Der Grundsatz, dass Neubewertungen von Prüfungsleistungen bei Meidung des beanstandeten Bewertungsfehlers nicht zu einem schlechteren Ergebnis führen können (zum Verschlechterungsverbot im Einzelnen Urteil vom 14. Juli 1999 – BVerwG 6 C 20.98 – BVerwGE 109, 211, 215 ff.), gilt nicht, soweit die Prüfungsleistung erneut zu erbringen ist. Dass der Kläger vor einer Verschlechterung der Gesamtnote deshalb geschützt ist, weil sein Rechtsschutzziel lediglich auf eine Notenverbesserung gerichtet ist, ändert nichts an der Pflicht und Befugnis des Prüfungsausschusses, die erbrachten Leistungen zutreffend, namentlich unter Beachtung der allgemeinen Bewertungsmaßstäbe, zu benoten.
Die Bewertung des Aktenvortrags mit 4 Punkten war, wie erstmals das Oberverwaltungsgericht festgestellt hat, rechtsfehlerhaft, weil der Prüfungsausschuss das Bestehen eines Antwortspielraums auf Seiten des Klägers verkannt hat. Dem Kläger kann nicht entgegen gehalten werden, seine Interessen nicht im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gewahrt zu haben. Nach den Äußerungen der Prüfer im Einwendungsverfahren hätte dieser sinnvollerweise allenfalls die Wiederholung des Aktenvortrags vor denselben Prüfern zum Ziel haben können. Ein solches Ziel war aber mit der Unsicherheit behaftet, ob der Beklagte überhaupt in angemessener Zeit dasselbe Prüferkollegium hätte zusammenstellen können. Eine einstweilige Anordnung mit dem Ziel zu erstreiten, die mündliche Prüfung insgesamt vorsorglich zu wiederholen, war dem Kläger bereits wegen der damit verbundenen Belastungen neben dem Aufbau seiner beruflichen Existenz nicht zuzumuten. Zudem waren, wie der Gang des Hauptsacheverfahrens zeigt, die Erfolgsaussichten eines vorläufigen Rechtsschutzbegehrens zweifelhaft.
3. Soweit sich der Beklagte mit der Revision gegen die vom Oberverwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung wendet, dem Kläger die Teilnahme an den für Rechtsreferendare angebotenen Arbeitsgemeinschaften zur Prüfungsvorbereitung zu gestatten, entfällt mit dem Erfolg der Revision des Klägers in Bezug auf den Umfang der Prüfungswiederholung die Beschwer des Beklagten. Denn der Kläger hat diesen Anspruch nur für den Fall geltend gemacht, dass er die gesamte mündliche Prüfung zu wiederholen hat. Der Ausspruch des Oberverwaltungsgerichts hat sich in diesem Punkt erledigt. Da der Beklagte für diesen Fall keine vorsorglichen Erklärungen abgegeben hat, müsste seine Revision insoweit verworfen werden. Der Umstand, dass der Senat über eine andere Revisionsrüge des Beklagten sachlich entscheidet (oben 1 c), führt aber dazu, dass die Revision zurückzuweisen ist.
4. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
Unterschriften
Bardenhewer, Hahn, Gerhardt, Graulich, Vormeier
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 19.12.2001 durch Thiele Justizobersekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 707558 |
DÖV 2002, 823 |
WissR 2002, 298 |
WissR 2002, 373 |
DVBl. 2002, 973 |
NdsVBl. 2002, 262 |