Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflicht zur Schaffung richterrechtlicher Übergangsregelungen bei Mängeln einer Prüfungsordnung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Stellt ein Verwaltungsgericht - egal welcher Instanz - bei der Überprüfung einer berufsbezogenen behördlichen Prüfungsentscheidung fest, dass eine maßgebliche Bestimmung der anzuwendenden Prüfungsordnung nichtig ist, hat es für den zu entscheidenden Fall eine inter partes wirkende Übergangsregelung zu treffen.

2. Bei der inhaltlichen Ausgestaltung einer prüfungsrechtlichen Übergangsregelung hat ein Verwaltungsgericht grundsätzlich die - soweit vorhanden - bisherige Verwaltungspraxis der jeweiligen Prüfungsbehörde zugrunde zu legen, wenn diese nicht gegen höherrangiges Recht verstößt.

 

Verfahrensgang

OVG für das Land NRW (Beschluss vom 21.06.2022; Aktenzeichen 14 A 2410/21)

VG Aachen (Urteil vom 03.08.2021; Aktenzeichen 6 K 1372/20)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Juni 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

 

Tatbestand

Rz. 1

Der Kläger, ein Rettungsassistent, wendet sich gegen das endgültige Nichtbestehen der staatlichen Ergänzungsprüfung zum Notfallsanitäter.

Rz. 2

Nachdem er den ersten Prüfungsversuch nicht bestanden hatte, ließ ihn die Beklagte zur Wiederholung des traumatologischen Fallbeispiels der praktischen Prüfung zu.

Rz. 3

Die am 20. August 2019 durchgeführte Wiederholungsprüfung des Klägers wurde von beiden Fachprüfern übereinstimmend mit "nicht bestanden" bewertet. Mit Bescheid vom 3. September 2019 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass er infolge des erneuten Nichtbestehens des traumatologischen Fallbeispiels die staatliche Ergänzungsprüfung zum Notfallsanitäter endgültig nicht bestanden habe. Sein Widerspruch blieb ohne Erfolg.

Rz. 4

Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil geändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 3. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juli 2020 verpflichtet, den Kläger zu einem weiteren Wiederholungsversuch des traumatologischen Fallbeispiels zuzulassen.

Rz. 5

Zur Begründung seines nach § 130a VwGO gefassten Beschlusses hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass die Zahl der in der Prüfungskommission einzusetzenden Fachprüfer in § 19 Abs. 2 Satz 1 NotSan-APrV rechtssatzmäßig nicht hinreichend bestimmt festgelegt sei. Deshalb sei eine richterrechtliche Übergangsregelung zu treffen, die sich an der Verwaltungspraxis orientiere. Die im August 2019 abgelegte Prüfung des Klägers werde jedoch zeitlich von der im Urteil vom 28. Oktober 2020 - BVerwG 6 C 8.19 - getroffenen Übergangsregelung des Bundesverwaltungsgerichts nicht erfasst, denn die Übergangsfrist beginne erst mit der Verkündung der Entscheidung. Ein rückwirkendes Inkrafttreten für bereits davor abgelegte Prüfungen sei ungeachtet der Frage, auf welcher Rechtsgrundlage das Bundesverwaltungsgericht die rechtsgestaltende Übergangsregelung getroffen habe, zur Vermeidung eines noch verfassungsferneren Zustands nicht erforderlich. Für vor dieser Entscheidung durchgeführte Prüfungen müsse es zur Wahrung der Grundrechte in Art. 12 Abs. 1 GG sowie Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dabei verbleiben, dass der Prüfling einen Anspruch auf eine erneute verfahrensfehlerfreie Prüfung habe.

Rz. 6

Die Beklagte rügt mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision als willkürlich, dass die Vorinstanz ihre kontinuierliche Verwaltungspraxis zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich behandle. Sie habe sämtliche Prüfungen durch zwei Fachprüfer abgenommen, so dass alle Prüflinge gleichbehandelt worden seien. Der Kläger tritt der Revision entgegen und rügt darüber hinaus Verfahrens- und Bewertungsmängel der Wiederholungsprüfung.

Rz. 7

In der Revisionsverhandlung ist der Kläger von dem in der Berufungsinstanz verfolgten Verpflichtungs- zu dem vor dem Verwaltungsgericht gestellten Anfechtungsantrag zurückgekehrt.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 8

Die zulässige Revision der Beklagten hat Erfolg. Die Berufungsentscheidung beruht auf mehreren Verstößen gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Zur Verfolgung des vom Kläger geltend gemachten Prüfungsanspruchs ist nicht die Verpflichtungs-, sondern die Anfechtungsklage statthaft und zulässig (1.). Zutreffend ist der materiellrechtliche Ansatz der Vorinstanz, dass die Regelung der Zahl der Fachprüfer in dem hier noch anzuwendenden § 19 Abs. 2 Satz 1 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter (NotSan-APrV) vom 16. Dezember 2013 (BGBl. I S. 4280) nicht hinreichend bestimmt ist (2.). Das Berufungsgericht hat jedoch keine eigene richterrechtliche Übergangsregelung für den vorliegenden Fall getroffen, sondern die angegriffenen Bescheide mit einer gegen revisibles Recht verstoßenden Begründung aufgehoben (3.). Ob die Berufungsentscheidung sich zumindest in ihrem kassatorischen Ausspruch im Ergebnis als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO), kann der erkennende Senat mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen nur partiell prüfen (4.). Deshalb ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (5.).

Rz. 9

1. Für sein Rechtsschutzziel, erneut das traumatologische Fallbeispiel im Rahmen der Ergänzungsprüfung für Notfallsanitäter ablegen zu können, ist allein der Anfechtungsantrag statthaft (a)) und zulässig (b)), zu dem der Kläger in der Revisionsverhandlung zurückgekehrt ist. Dem stand das Verbot der Klageänderung im Revisionsverfahren (§ 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht entgegen, denn in dem Austausch dieser beiden Anträge liegt eine gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 264 Nr. 2 ZPO privilegiert zulässige Klageänderung (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1997 - 6 C 9.95 - NJW 1998, 323 ≪324≫).

Rz. 10

a) Ob Rechtsschutz gegen eine prüfungsrechtliche Entscheidung durch die Erhebung einer Anfechtungs- oder einer Verpflichtungs- bzw. Bescheidungsklage zu suchen ist, richtet sich nach der Ausgestaltung der maßgeblichen Prüfungsordnung (BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2019 - 6 C 3.18 - BVerwGE 164, 379 Rn. 8 und Beschluss vom 14. Dezember 2023 - 6 B 12.23 - NVwZ 2024, 420 Rn. 9). In der revisiblen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter (NotSan-APrV) ist im Falle der gerichtlichen Aufhebung eines Bescheids, in dem das endgültige Nichtbestehen der Prüfung gemäß § 10 Satz 3 NotSan-APrV festgestellt wird, kein behördlicher Zwischenschritt in Form eines Verwaltungsakts vorgesehen, der für die Fortsetzung des dann wieder offenen Prüfungsverfahrens erforderlich wäre (BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2019 - 6 C 3.18 - BVerwGE 164, 379 Rn. 8). Deshalb hat der Kläger den status quo ante und damit sein Rechtsschutzziel erreicht, wenn der Bescheid vom 3. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben wird, der das endgültige Nichtbestehen der Wiederholungsprüfung feststellt. Dann leben das Prüfungsrechtsverhältnis sowie der durch die Zulassung aktualisierte Prüfungsanspruch wieder auf und die Prüfung ist in dem Stadium fortzusetzen, in dem sie sich vor dem Erlass des Verwaltungsakts befand. Insbesondere bedarf es im vorliegenden Fall - was das Berufungsgericht übersehen hat - keiner erneuten Zulassung des Klägers zur Prüfung.

Rz. 11

b) Das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage liegt vor. Dem Kläger kann weder die mangelnde Einhaltung der Frist des § 10 Satz 8 NotSan-APrV (aa)) noch des § 32 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters vom 22. Mai 2013 (BGBl. I S. 1348) in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 20. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2768) - NotSanG - (bb)) entgegengehalten werden.

Rz. 12

aa) Zwar ist gemäß § 10 Satz 7 und 8 NotSan-APrV eine Wiederholungsprüfung innerhalb eines angemessenen Zeitraums abzulegen, der die Dauer von zwölf Monaten nicht überschreiten darf. Jedoch verlangt Art. 12 Abs. 1 GG bei berufsbezogenen Prüfungen, dass einem Prüfling mindestens ein Wiederholungsversuch zuzugestehen ist (BVerfG, Beschluss vom 14. März 1989 - 1 BvR 1033/82 und 174/84 - BVerfGE 80, 1 ≪35 f.≫; Fischer/Jeremias/Dietrich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 766). Deshalb darf bei einem Prüfling, der gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nimmt, die Anwendung von § 10 Satz 7 und 8 NotSan-APrV nicht zum Ausschluss des Wiederholungsversuchs führen (BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 2020 - 6 C 8.19 - BVerwGE 170, 1 Rn. 68).

Rz. 13

bb) Nach § 32 Abs. 2 Satz 1 NotSanG erhält eine Person, die eine mindestens fünfjährige Tätigkeit als Rettungsassistent nachweist, bei bestehender Zuverlässigkeit und gesundheitlicher Eignung die Erlaubnis, die Berufsbezeichnung "Notfallsanitäter" zu führen, wenn sie innerhalb von zehn Jahren nach Inkrafttreten dieses Gesetzes die staatliche Ergänzungsprüfung besteht. Diese Übergangsfrist ist am 31. Dezember 2023 abgelaufen. Der Gesetzgeber wollte die Übergangsphase nach dem Außerkrafttreten des Rettungsassistentengesetzes aus Gründen der Rechtsklarheit beschränken. Es sei für die Betroffenen zumutbar, sich innerhalb dieser Frist zu entscheiden, ob sie die neue Berufsbezeichnung erwerben wollten (BT-Drs. 17/11689 S. 27). Mit Blick auf das in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verankerte verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes darf dem Kläger bei verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes auch insoweit nicht entgegengehalten werden.

Rz. 14

2. Materiellrechtlich ist das Berufungsgericht in Übereinstimmung mit Bundesrecht davon ausgegangen, dass die Zahl der Fachprüfer in dem hier noch anzuwendenden § 19 Abs. 2 Satz 1 NotSan-APrV vom 16. Dezember 2013 (BGBl. I S. 4280) rechtssatzmäßig nicht hinreichend bestimmt ist.

Rz. 15

Die Rechtmäßigkeit der Durchführung einer berufsbezogenen Prüfung, deren Bewertung sowie die darauf beruhende Feststellung ihres endgültigen Nichtbestehens beurteilen sich anhand der zum Zeitpunkt der Erbringung der Prüfungsleistung maßgebenden Sach- und Rechtslage (BVerwG, Urteil vom 10. April 2019 - 6 C 19.18 - BVerwGE 165, 202 Rn. 9). Im Zeitpunkt der vom Kläger am 20. August 2019 wiederholten Ergänzungsprüfung galt die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter in der zuletzt durch Gesetz vom 18. April 2016 (BGBl. I S. 886) geänderten Fassung. Demzufolge beanspruchte § 19 Abs. 2 Satz 1 NotSan-APrV in seiner ursprünglichen Fassung Geltung, wonach die Prüfung jedes Fallbeispiels im praktischen Teil von "mindestens" zwei Fachprüfern abgenommen und bewertet wurde.

Rz. 16

Diese Regelung war nichtig. Denn nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die konkrete Zahl der Prüfer wegen des Gesetzesvorbehalts in Art. 12 Abs. 1 GG und mit Blick auf den das Prüfungsrecht prägenden Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) vom Normgeber exakt festzulegen. Die Prüferanzahl erweist sich als wesentlich für das Prüfungsergebnis, weil sich die Bewertung der Prüfungsleistung bei einer Kollegialprüfung nicht als Ergebnis einer einzelnen, sondern auf verschiedenen subjektiven Wertungen und Gewichtungen beruhenden Bewertungsentscheidung mehrerer Prüfer darstellt (BVerwG, Urteile vom 10. April 2019 - 6 C 19.18 - BVerwGE 165, 202 Rn. 15, 17 und vom 28. Oktober 2020 - 6 C 8.19 - BVerwGE 170, 1 Rn. 21 ff.). Deshalb genügte die Regelung des § 19 Abs. 2 Satz 1 NotSan-APrV in ihrer damaligen Fassung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. die Neufassung der Vorschrift durch Art. 12 Nr. 8 Buchst. a der Verordnung vom 7. Juni 2023, BGBl. I Nr. 148, in der der Verordnungsgeber das Wort "mindestens" gestrichen hat).

Rz. 17

3. Als bundesrechtskonform erweist sich der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, bei der Fehlerfolgenbewältigung dürfe die fehlende zahlenmäßige Festlegung der Zahl von Fachprüfern in der Ausbildungs- und Prüfungsordnung nicht dazu führen, dass die Möglichkeit der Durchführung von Ergänzungsprüfungen und damit die Ausübung der Berufswahlfreiheit ausgesetzt sei. Vielmehr müsse zur Vermeidung einer verfassungsferneren Regelungslücke und zur Wahrung der Berufsfreiheit übergangsweise bis zur Herstellung verfassungsgemäßer Zustände durch den Verordnungsgeber eine Übergangsregelung getroffen werden, damit den aus Art. 12 Abs. 1 GG resultierenden Gewährleistungen für die Prüflinge Rechnung getragen werde. Diese Übergangsregelung habe sich an der ständigen Verwaltungspraxis der jeweiligen Prüfungsbehörde zu orientieren.

Rz. 18

Die sich daran anschließende Annahme, der erkennende Senat habe im Urteil vom 28. Oktober 2020 - BVerwG 6 C 8.19 - eine inter omnes wirkende rechtsgestaltende Übergangsregelung getroffen, trifft jedoch nicht zu. Unter Verletzung von Bundesrecht hat die Vorinstanz deshalb davon abgesehen, eine eigene richterrechtliche Übergangsregelung zu treffen (a)). Gegen Bundesrecht verstößt auch ihre Schlussfolgerung, die im August 2019 - und damit vor dem 28. Oktober 2020 - abgelegte Prüfung des Klägers werde zeitlich von keiner Übergangsregelung erfasst und die Nichtigkeit des § 19 Abs. 2 Satz 1 NotSan-APrV führe deshalb zu einem Anspruch des Klägers auf Wiederholung der Prüfung (b)).

Rz. 19

a) Stellt ein Verwaltungsgericht - egal welcher Instanz - bei der Überprüfung einer berufsbezogenen behördlichen Prüfungsentscheidung fest, dass eine maßgebliche Bestimmung der anzuwendenden Prüfungsordnung nichtig ist, hat es für den zu entscheidenden Fall eine inter partes wirkende Übergangsregelung zu treffen. Andernfalls wäre es dem Kläger wegen des Defizits der Prüfungsordnung bis zum Tätigwerden des Normgebers nicht möglich, eine rechtmäßige Prüfung abzulegen. Damit träte ein Stillstand der Prüfungstätigkeit ein, der sich mit Blick auf die in Art. 12 Abs. 1 GG garantierte Berufsfreiheit als noch verfassungsfernerer Zustand erwiese als die an sich gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO gebotene Aufhebung der behördlichen Prüfungsentscheidung. Würde die Übergangsregelung aber nur zukunftsgerichtet wirken und die Prüfungsentscheidung allein wegen des Mangels der Prüfungsordnung gerichtlich kassiert, hätte der Kläger gegenüber seinen Mitprüflingen den mit Blick auf die Chancengleichheit sachlich nicht gerechtfertigten Vorteil einer erneuten Prüfungschance.

Rz. 20

Die Pflicht zur Lückenfüllung qua Richterrecht ist - entgegen der Annahme des Berufungsgerichts - nicht institutionell dem Bundesverwaltungsgericht vorbehalten. Denn hinter dem prüfungsrechtlichen Gebot zur Schaffung einer Übergangsregelung steht nicht etwa eine prozessrechtliche Anleihe an § 35 BVerfGG als Grundlage verfassungsgerichtlicher Fortgeltungsanordnungen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2023 - 6 C 6.21 - BVerwGE 177, 318 Rn. 18 ff.). Vielmehr stützt sich die Rechtsprechung zur gebotenen richterrechtlichen Überbrückung rechtswidriger Prüfungsregelungen im Ausgangspunkt auf die im materiellen Verfassungsrecht wurzelnde Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Danach hat ein Gericht beim Fehlen einer notwendigen Ermächtigungsgrundlage zur Vermeidung einer verfassungsferneren Regelungslücke die reguläre Rechtsfolge der Kassation des Verwaltungsakts vorübergehend auszusetzen und dem Normgeber für die Schaffung der erforderlichen Regelungen eine Übergangsfrist einzuräumen, während derer Maßnahmen ungeachtet des Fehlens einer gesetzlichen Grundlage hinzunehmen sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 27. Januar 1976 - 1 BvR 2325/73 - BVerfGE 41, 251 ≪266 ff.≫, vom 22. Juni 1977 - 1 BvR 799/76 - BVerfGE 45, 400 ≪420≫, vom 1. März 1978 - 1 BvL 24/76 - BVerfGE 48, 29 ≪37 ff.≫, vom 13. Juni 1979 - 1 BvR 699/77 - BVerfGE 51, 268 ≪287 ff.≫, vom 20. Oktober 1981 - 1 BvR 640/80 - BVerfGE 58, 257 ≪280 ff.≫ und vom 13. Dezember 1988 - 2 BvL 1/84 - BVerfGE 79, 245 ≪250 f.≫).

Rz. 21

Diese verfassungsgerichtliche Rechtsprechungslinie, die für die Bewältigung der mit den fortschreitenden Anforderungen des Gesetzesvorbehalts einhergehenden Fehlerfolgen zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen entwickelt worden ist, wurde später für andere Fallkonstellationen geöffnet (BVerfG, Beschluss vom 25. März 1992 - 1 BvR 1430/88 - BVerfGE 85, 386 ≪401 f.≫; vgl. auch Urteil vom 31. Mai 2006 - 2 BvR 1673, 2402/04 - BVerfGE 116, 69 ≪92≫: "... beispielsweise..."). Das Bundesverwaltungsgericht hat sie u. a. im Schulrecht (BVerwG, Vorlagebeschluss vom 15. November 1974 - 7 C 8.73 - BVerwGE 47, 194 ≪200 f.≫; Urteile vom 14. Juli 1978 - 7 C 11.76 - BVerwGE 56, 155 ≪161 f.≫ und vom 13. Januar 1982 - 7 C 95.80 - BVerwGE 64, 308 ≪317 f.≫) sowie im Prüfungsrecht herangezogen (BVerwG, Beschluss vom 2. August 1988 - 7 B 90.88 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 254). Schließlich wurde die Pflicht zur Schaffung richterrechtlichen Übergangsrechts auf weitere Mängel von Prüfungsordnungen erstreckt (BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 2015 - 6 B 43.14 - NVwZ-RR 2015, 416 Rn. 11 und Urteil vom 15. März 2017 - 6 C 46.15 - NVwZ-RR 2017, 693 Rn. 23).

Rz. 22

Bei der ihm obliegenden inhaltlichen Ausgestaltung einer prüfungsrechtlichen Übergangsregelung hat ein Verwaltungsgericht grundsätzlich die - soweit vorhanden - bisherige Verwaltungspraxis der jeweiligen Prüfungsbehörde zugrunde zu legen (BVerwG, Urteile vom 10. April 2019 - 6 C 19.18 - BVerwGE 165, 202 Rn. 20 und vom 28. Oktober 2020 - 6 C 8.19 - BVerwGE 170, 1 Rn. 24). Die Orientierung an der geübten Praxis ist dem das Prüfungsrecht durchziehenden Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) geschuldet. Allerdings muss mit Blick auf den Vorrang des Gesetzes gewährleistet sein, dass die als Anknüpfungspunkt einer Übergangsregelung dienende Verwaltungspraxis sich ihrerseits als rechtmäßig erweist, d. h. ohne Verstoß gegen höherrangiges Recht in die Regelung einer Prüfungsordnung übernommen werden könnte. Nur dann liefert sie einen legitimen Anknüpfungspunkt für den Inhalt der gerichtlichen Übergangsregelung.

Rz. 23

b) Auch wenn man unterstellt, die Vorinstanz hätte die von ihr zugrunde gelegte Übergangsregelung selbst getroffen, beruhte die Berufungsentscheidung auf einer Verletzung von Bundesrecht. Denn die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die normvertretende Übergangsregelung könne erst ab dem 28. Oktober 2020 - dem Verkündungszeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren BVerwG 6 C 8.19 - angewendet werden, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Diese intertemporale Differenzierung hinsichtlich des Beginns der Übergangsfrist lässt sich mit Blick auf die anderen Prüflinge in der Prüfungskampagne sachlich nicht rechtfertigen und verletzt demzufolge den Grundsatz der Chancengleichheit.

Rz. 24

4. Die Berufungsentscheidung erweist sich im Ergebnis auch nicht deshalb als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO), weil die Beklagte die Ergänzungsprüfung des Klägers nicht benotet hat.

Rz. 25

Entgegen der Annahme des Klägers sind Ergänzungsprüfungen nicht zu benoten. Der Normtext der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Notfallsanitäter unterscheidet terminologisch konsequent zwischen "Benotung" und "Bewertung" (§ 5 Abs. 3 Satz 2 NotSan-APrV). Die Normen für die staatliche Prüfung in § 8 sowie im Abschnitt 2 der Verordnung verpflichten die Prüfungsbehörde zur Benotung der Prüfung (§ 15 Abs. 2 Satz 2 - 5, § 16 Abs. 4, § 17 Abs. 6 NotSan-APrV). Demgegenüber sehen die Regelungen für die staatliche Ergänzungsprüfung in § 10 Satz 4 NotSan-APrV und Abschnitt 3 nur die Bewertung der Leistungen des Prüflings vor (§ 18 Abs. 3 Satz 1, 3 und 5, § 19 Abs. 2 Satz 1 und 2 NotSan-APrV). Dieser systematische Befund wird zudem durch die Materialien der Verordnung gestützt. Nach dem Willen des Verordnungsgebers war bei der Ergänzungsprüfung ausschließlich das Bestehen der jeweiligen Themenbereiche oder Fallbeispiele entscheidend. Denn im Gegensatz zur staatlichen Prüfung, mit der den Prüflingen erstmals der Zugang zum Beruf eröffnet werde, diene die Ergänzungsprüfung lediglich dem Nachweis, dass die in der Regel berufserfahrenen Rettungsassistenten auch die Qualifikation als Notfallsanitäter erfüllten (BR-Drs. 728/13 S. 47). Aufgrund dieser sachgerechten Differenzierung des Verordnungsgebers hat die Beklagte bei der Beurteilung der Leistungen des Klägers bei dem traumatologischen Fallbeispiel zutreffend nur zwischen "bestanden" und "nicht bestanden" differenziert.

Rz. 26

Hinsichtlich der übrigen Rügen des Klägers hat das Berufungsgericht - von seinem rechtlichen Ansatz aus konsequent - keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, so dass dem erkennenden Senat die Überprüfung der Berufungsentscheidung auf Ergebnisrichtigkeit insoweit verwehrt ist.

Rz. 27

5. Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen kann der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden. Deshalb war der Beschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine tatrichterliche Beurteilung der im August 2019 abgelegten und gut dokumentierten Wiederholungsprüfung des Klägers von vornherein aussichtslos erschiene (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Dezember 2016 - 6 B 17.16 - juris Rn. 30).

Rz. 28

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16332317

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