Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Niederlassungsfreiheit. Straßenverkehr. Fahrer mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat. Fahrzeug, das in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen ist. Fahrzeug, das der geschäftsführenden Gesellschafterin einer in diesem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird. Verpflichtung zur Anmeldung im ersten Mitgliedstaat
Normenkette
Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; AEUV Art. 49
Beteiligte
Tenor
1. Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein dort wohnhafter Geschäftsführer oder Selbständiger sich nur dann auf eine Ausnahme von der Verpflichtung berufen kann, in diesem Mitgliedstaat ein Fahrzeug anzumelden, das in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen ist und ihm von einer dort ansässigen Gesellschaft mit oder ohne Rechtspersönlichkeit zur Verfügung gestellt wird, wenn in dem Fahrzeug stets Dokumente mitgeführt werden, die belegen, dass die betroffene Person die Voraussetzungen dieser Ausnahme erfüllt.
2. Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats – wonach ein dort wohnhafter geschäftsführender Gesellschafter, der von seiner in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft kein Gehalt oder Einkommen bezieht, zur Anmeldung eines ihm von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Fahrzeugs im erstgenannten Mitgliedstaat verpflichtet ist, ohne dass er die Möglichkeit hat, den Nachweis darüber zu erbringen, welche Rolle er innerhalb der Gesellschaft innehat – entgegensteht, es sei denn, dass dieses Fahrzeug dauerhaft hauptsächlich im erstgenannten Mitgliedstaat genutzt werden soll oder tatsächlich genutzt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Gericht Erster Instanz Eupen (Belgien) mit Entscheidung vom 4. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Januar 2021, in dem Verfahren
IO
gegen
Wallonische Region
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader und des Richters N. Jääskinen (Berichterstatter),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 und 56 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen IO und der Wallonischen Region (Belgien) wegen einer aufgrund eines Verstoßes gegen die Regelung über die Inbetriebnahme eines Fahrzeugs im Königreich Belgien verhängten Geldbuße und der Zahlung der Steuern, die in dieser Regelung für die Nutzung eines in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenen Firmenfahrzeugs durch die betroffene Person mit Wohnsitz in Belgien vorgesehen sind.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Art. 3 § 2 Nr. 2 des Königlichen Erlasses vom 20. Juli 2001 über die Zulassung von Fahrzeugen (Moniteur belge vom 8. August 2001, S. 27022) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Königlicher Erlass vom 20. Juli 2001) bestimmt:
„In folgenden Fällen ist die Zulassung in Belgien von Fahrzeugen, die im Ausland zugelassen sind und von den in § 1 erwähnten Personen in Betrieb genommen werden, jedoch nicht Pflicht, diese Fälle betreffen:
…
2. Fahrzeuge, die eine natürliche Person für die Ausübung ihres Berufs und nebenbei für private Zwecke benutzt und die von einem ausländischen Arbeitgeber oder Auftraggeber, mit dem diese Person durch einen Arbeitsvertrag oder einen Auftrag verbunden ist, zur Verfügung gestellt werden; eine Kopie des Arbeitsvertrags oder Auftrags ist im Fahrzeug mitzuführen sowie ein durch den ausländischen Arbeitgeber oder Auftraggeber ausgestelltes Dokument, durch das bescheinigt wird, dass Letzterer das Fahrzeug dieser Person zur Verfügung gestellt hat”.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 4
Im September 2007 gründeten die in Belgien wohnhafte IO und ihr Ehemann in Deutschland eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), deren Geschäftsführer sie beide sind. Sitz dieser Gesellschaft ist Aachen (Deutschland).
Rz. 5
Am 27. Juni 2017 wurde IO von den Behörden der Wallonischen Region kontrolliert, als sie am Steuer eines Fahrzeugs saß, das im Eigentum ihrer Gesellschaft steht. Bei dieser Kontrolle stellte sich heraus, dass IO nicht im Besitz der Dokumente war, die eine Ausnahme von der Verpflichtung zur Anmeldung dieses Fahrzeugs in Belgien rechtfertigen könnten.
Rz. 6
Infolge dieser Kontrolle erstellten die zuständigen Behörden der Wallonischen Region ein Protokoll, in dem ein Verstoß gegen den Königlichen Erlass vom 20. Juli 2001 festgestellt und gegen IO Verkehrsteuer, das Zuschlagszehntel hierauf, Zulassungsteuer, ein Ökomalus sowie eine Geldbuße für den Verstoß festgesetzt wurden. Der Betrag belief sich auf ins...