Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Insolvenzverfahren. Klagen, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen. Verkauf einer Liegenschaft und Bestellung einer Hypothek. Klage des Insolvenzverwalters auf Feststellung der Unwirksamkeit. Ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde
Normenkette
EGV Nr. 1346/2000 Art. 3 Abs. 1, Art. 25 Abs. 1
Beteiligte
Banque patrimoine et immobilier SA |
Tenor
1. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren ist dahin auszulegen, dass die Klage eines von einem Gericht des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, bestellten Insolvenzverwalters, auf Feststellung der Unwirksamkeit des Verkaufs einer in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Liegenschaft und der zulasten dieser bestellten Hypothek der Gesamtheit der Gläubiger gegenüber in die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des ersten Mitgliedstaats fällt.
2. Art. 25 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 ist dahin auszulegen, dass die Entscheidung, mit der ein Gericht des Mitgliedstaats der Verfahrenseröffnung dem Insolvenzverwalter erlaubt, in einem anderen Mitgliedstaat eine Klage zu erheben, auch wenn diese in die ausschließliche Zuständigkeit dieses Gerichts fiele, nicht die Übertragung einer internationalen Zuständigkeit an die Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats bewirken kann.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 24. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juli 2018, in dem Verfahren
UB
gegen
VA,
Tiger SCI,
WZ als Insolvenzverwalter von UB,
Banque patrimoine et immobilier SA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin, des Richters D. Šváby und der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin),
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von UB, VA und der Tiger SCI, vertreten durch J. Ghestin, avocat,
- der Banque patrimoine und immobilier SA, vertreten durch P. Spinosi, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, D. Dubois und E. de Moustier als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. 2000, L 160, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen UB einerseits und VA, der Tiger SCI, WZ als Insolvenzverwalter von UB und der Banque patrimoine et immobilier SA andererseits wegen der Verkäufe von Liegenschaften, die ursprünglich UB gehörten, wegen zulasten dieser Liegenschaften von UB bestellter Hypotheken und wegen der Klage von WZ auf Feststellung der Unwirksamkeit dieser Vorgänge gegenüber der Insolvenzmasse.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 1346/2000
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 2 und 6 der Verordnung Nr. 1346/2000 lauten:
„(2) Für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes sind effiziente und wirksame grenzüberschreitende Insolvenzverfahren erforderlich; die Annahme dieser Verordnung ist zur Verwirklichung dieses Ziels erforderlich, das in den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen im Sinne des Artikels 65 des Vertrags fällt.
…
(6) Gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sollte sich diese Verordnung auf Vorschriften beschränken, die die Zuständigkeit für die Eröffnung von Insolvenzverfahren und für Entscheidungen regeln, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen. Darüber hinaus sollte diese Verordnung Vorschriften hinsichtlich der Anerkennung solcher Entscheidungen und hinsichtlich des anwendbaren Rechts, die ebenfalls diesem Grundsatz genügen, enthalten.”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:
„Diese Verordnung gilt für Gesamtverfahren, welche die Insolvenz des Schuldners voraussetzen und den vollständigen oder teilweisen Vermögensbeschlag gegen den Schuldner sowie die Bestellung eines Verwalters zur Folge haben.”
Rz. 5
Art. 3 „Internationale Zuständigkeit”) Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.”
Rz. 6
In Art. 4 d...