Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylpolitik. Vorlage zur Vorabentscheidung. Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus. Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft. Drittstaatsangehöriger, der wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. Gefahr für die Allgemeinheit. Verhältnismäßigkeitsprüfung

 

Normenkette

EURL 95/2011 Art. 14 Abs. 4 Buchst. b

 

Beteiligte

Commissaire général aux réfugiés und aux apatrides (Réfugié ayant commis un crime grave)

XXX

Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides

 

Tenor

1.Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

2.Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-8/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 2. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Januar 2022, in dem Verfahren

XXX

gegen

Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz und A. Kumin,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. November 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • –        von XXX, vertreten durch J. Hardy, Avocat,
  • –        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet, A. Van Baelen und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,
  • –        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
  • –        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azema und L. Grønfeldt als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Februar 2023

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XXX, einem Drittstaatsangehörigen, und dem Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, Belgien, im Folgenden: Generalkommissar) wegen der Entscheidung des Generalkommissars, ihm die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

Rz. 3

Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (UnitedNations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt und geändert (im Folgenden: Genfer Konvention).

Rz. 4

Art. 1 Abschnitt F der Genfer Konvention bestimmt:

„Die Bestimmungen dieses Abkommens finden keine Anwendung auf Personen, in Bezug auf die aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist,

b)      dass sie ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des Aufnahmelandes begangen haben, bevor sie dort als Flüchtling aufgenommen wurden;

…“

Rz. 5

Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention lautet:

„Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“

Unionsrecht

Richt...

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