Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freizügigkeit. Arbeitnehmer. Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung. Anerkennung von Berufsqualifikationen. Begriff ‚reglementierter Beruf’. Zulassung zu einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Referenten bei der Cour de cassation (Belgien)
Normenkette
AEUV Art. 45, 49; Richtlinie 2005/36/EG
Beteiligte
Jury du concours de recrutement de référendaires près la Cour de cassation |
Tenor
1. Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er anwendbar ist, wenn jemand, der – wie im Ausgangsverfahren – in dem Mitgliedstaat wohnt und arbeitet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diploms ist und sich hierauf bei seiner Anmeldung zu einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Referenten bei der Cour de cassation des erstgenannten Mitgliedstaats beruft, und dass diese Situation nicht unter Art. 45 Abs. 4 AEUV fällt.
2. Die Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen ist dahin auszulegen, dass das Amt eines Referenten bei der Cour de cassation kein „reglementierter Beruf” im Sinne dieser Richtlinie 2005/36 ist.
3. Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsrechtsstreits dem nicht entgegensteht, dass der Prüfungsausschuss eines Auswahlverfahrens zur Einstellung von Referenten bei einem Gericht eines Mitgliedstaats bei der Prüfung einer Anmeldung eines Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats zu diesem Auswahlverfahren die Teilnahme daran vom Besitz der nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats erforderlichen Diplome oder von der Anerkennung der akademischen Gleichwertigkeit eines von der Universität eines anderen Mitgliedstaats erteilten Masterdiploms abhängig macht, ohne dabei sämtliche Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Berufserfahrung des Betroffenen in der Weise zu berücksichtigen, dass er die dadurch bescheinigten Berufsqualifikationen mit den durch die genannten Rechtsvorschriften vorgeschriebenen vergleicht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d'État (Belgien) mit Entscheidung vom 15. Mai 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Juni 2014, in dem Verfahren
Alain Brouillard
gegen
Jury du concours de recrutement de référendaires près la Cour de cassation,
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, J. L. da Cruz Vilaça und C. Lycourgos,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. März 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Brouillard, der sich selbst vertritt,
- der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von P. Levert und P.-E. Paris, avocats,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Hottiaux und H. Støvlbæk als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 18. Juni 2015
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 45 AEUV und 49 AEUV sowie der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. L 255, S. 22).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Brouillard und der Jury du concours de recrutement de référendaires près la Cour de cassation (Prüfungsausschuss der Prüfung im Wettbewerbsverfahren zur Einstellung von Referenten am Kassationshof, im Folgenden: Prüfungsausschuss) und dem État belge wegen der Entscheidung des Prüfungsausschusses, die Anmeldung von Herrn Brouillard zur Prüfung im Wettbewerbsverfahren zurückzuweisen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36 heißt es:
„Diese Richtlinie berührt nicht die Anwendung des Artikels [45] Absatz 4 [AEUV] und des Artikels [51 AEUV], insbesondere auf Notare.”
Rz. 4
Art. 1 („Gegenstand”) der Richtlinie 2005/36 lautet:
„Diese Richtlinie legt die Vorschriften fest, nach denen ein Mitgliedstaat, der den Zugang zu einem reglementierten Beruf oder dessen Ausübung in seinem Hoheitsgebiet an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen knüpft (im Folgenden ‚Aufnahmemitgliedstaat’ genannt), für den Zugang zu diesem Beruf und dessen Ausübung die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten (im Folgenden ‚Herkunftsmitgliedstaat’ genannt) erworbenen Berufsqualifikationen anerkennt, die ihren Inhaber berechtigen, dort denselben Beruf auszuüben.”
Rz. 5
Art. 2 („Anwendungsbereich”) dieser Ric...