Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Rechtsangleichung. Energie. Gassektor. Festsetzung der Lieferpreise für Erdgas an Endkunden. Regulierte Tarife. Hindernis. Vereinbarkeit. Beurteilungskriterien. Ziele der Versorgungssicherheit und des territorialen Zusammenhalts
Normenkette
Richtlinie 2009/73/EG
Beteiligte
Association nationale des opérateurs détaillants en énergie (ANODE) |
Ministre de l'Économie, de l'Industrie et du Numérique |
Commission de régulation de l'énergie |
Tenor
1. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG ist dahin auszulegen, dass die Intervention eines Mitgliedstaats, die darin besteht, bestimmten Lieferanten, darunter dem traditionellen Lieferanten, vorzuschreiben, dem Endverbraucher die Lieferung von Erdgas zu regulierten Tarifen anzubieten, bereits ihrer Natur nach ein Hindernis für die Verwirklichung eines wettbewerbsbestimmten Erdgasmarkts im Sinne dieses Art. 3 Abs. 1 darstellt, und dieses Hindernis besteht auch dann, wenn diese Intervention es nicht ausschließt, dass von allen Lieferanten auf dem Markt konkurrierende Angebote zu Preisen unterbreitet werden, die unter diesen Tarifen liegen.
2. Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73, ausgelegt im Licht der Art. 14 und 106 AEUV sowie des – dem EU-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon und dem AEU-Vertrag angefügten – Protokolls Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse, ist dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten erlaubt, zu beurteilen, ob den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Gemeinwohlverpflichtungen hinsichtlich des Lieferpreises von Erdgas vorzuschreiben sind, um u. a. die Versorgungssicherheit und den territorialen Zusammenhalt zu gewährleisten, sofern dabei zum einen alle Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie erfüllt sind, insbesondere der nicht diskriminierende Charakter dieser Verpflichtungen gewahrt ist, und zum anderen die Auferlegung dieser Verpflichtungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.
Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 ist dahin auszulegen, dass er einer auf der Berücksichtigung der Kosten beruhenden Methode der Preisfestlegung nicht entgegensteht, vorausgesetzt, die Anwendung einer solchen Methode hat nicht zur Folge, dass die staatliche Intervention über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die mit ihr verfolgten Ziele von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu erreichen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d'État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 15. Dezember 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 10. März 2015, in dem Verfahren
Association nationale des opérateurs détaillants en énergie (ANODE)
gegen
Premier ministre,
Ministre de l'Économie, de l'Industrie et du Numérique,
Commission de régulation de l'énergie,
ENGIE, vormals GDF Suez,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça sowie der Richter F. Biltgen, A. Borg Barthet (Berichterstatter), E. Levits und der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
unter Berücksichtigung der Erklärungen:
- der Association nationale des opérateurs détaillants en énergie (ANODE), vertreten durch O. Fréget und R. Lazerges, avocats,
- von ENGIE, vertreten durch C. Barthélemy, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und J. Bousin als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér als Bevollmächtigten,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Giolito und O. Beynet als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. April 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. 2009, L 211, S. 94).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association nationale des opérateurs détaillants en énergie (Nationaler Verband der Energieeinzelhändler) (ANODE) auf der einen Seite und dem Premier ministre (Premierminister), dem Ministre de l'Économie, de l'Industrie et du Numérique (Minister für Wirtschaft, Industrie und Informationstechnologie), der Commission de régulation de l'énergie (Regulierungskommission für Energie, Frankreich) und ENGIE, vormals GDF Suez, auf der anderen Seite wegen der regulierten Tarife für die Abnahme von Erdgas.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 44 und 47 der Richtlinie 2009/73 heißt es:
„(44) Die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher ...