Entscheidungsstichwort (Thema)
Befugnisse des nationalen Gerichts. Staatliche Beihilfen. Beihilfe, die einem Kreditgeber in Form einer Bürgschaft gewährt wird, um ihm zu ermöglichen, einem Kreditnehmer einen Kredit zu geben. Verletzung der Verfahrensvorschriften. Verpflichtung zur Rückforderung. Nichtigkeit
Normenkette
EG Art. 88 Abs. 3
Beteiligte
Tenor
Art. 88 Abs. 3 Satz 3 EG ist dahin auszulegen, dass die nationalen Gerichte befugt sind, eine Bürgschaft in einer Situation wie derjenigen des Ausgangsverfahrens für nichtig zu erklären, in der eine rechtswidrige Beihilfe durch eine Bürgschaft durchgeführt worden ist, die eine staatliche Stelle zur Deckung eines Darlehens eines Finanzunternehmens an ein Unternehmen übernommen hat, dem diese Finanzmittel unter normalen Marktbedingungen nicht zugänglich gewesen wären. Bei der Ausübung dieser Befugnis sind die Gerichte verpflichtet, die Rückforderung der Beihilfe sicherzustellen, und sie können zu diesem Zweck die Bürgschaft insbesondere dann für nichtig erklären, wenn die Nichtigerklärung die Wiederherstellung der Wettbewerbslage vor der Gewährung dieser Bürgschaft herbeiführen oder erleichtern kann und keine weniger einschneidenden Verfahrensmaßnahmen gegeben sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 28. Mai 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Juni 2010, in dem Verfahren
Residex Capital IV CV
gegen
Gemeente Rotterdam
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter) sowie der Richter M. Safjan, A. Borg Barthet, E. Levits und J.-J. Kasel,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. April 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Residex Capital IV CV, vertreten durch M. Scheltema und E. Schotanus, advocaten,
- der Gemeente Rotterdam, vertreten durch J. van den Brande und M. Custers, advocaten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Noort als Bevollmächtigte,
- der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch H. van Vliet und S. Thomas als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 26. Mai 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 88 Abs. 3 EG.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Residex Capital IV CV (im Folgenden: Residex) und der Gemeente Rotterdam (Gemeinde Rotterdam) über eine Bürgschaft, die von der Gemeentelijk Havenbedrijf Rotterdam (Städtischer Hafenbetrieb Rotterdam, im Folgenden: GHR) zur Deckung eines Kredits von Residex an einen Kreditnehmer übernommen worden ist.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der 13. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88] des EG-Vertrags (ABl. L 83, S. 1) lautet:
„Bei rechtswidrigen Beihilfen, die mit dem Gemeinsamen Markt nicht vereinbar sind, muss wirksamer Wettbewerb wiederhergestellt werden. Dazu ist es notwendig, die betreffende Beihilfe einschließlich Zinsen unverzüglich zurückzufordern. Die Rückforderung hat nach den Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu erfolgen. …”
Rz. 4
Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
f) ‚rechtswidrige Beihilfen’: neue Beihilfen, die unter Verstoß gegen Artikel [88] Absatz 3 des Vertrags eingeführt werden;
…”
Rz. 5
Die Bekanntmachung der Kommission über die Durchsetzung des Beihilfenrechts durch die einzelstaatlichen Gerichte (ABl. 2009, C 85, S. 1) sieht in Nr. 28 unter der Überschrift „Verhinderung der Auszahlung rechtswidriger Beihilfen” vor:
„… Zu den Aufgaben der einzelstaatlichen Gerichte nach Artikel 88 Absatz 3 EG-Vertrag gehört es, den Einzelnen vor Rechtsverletzungen zu schützen …”
Rz. 6
Nr. 30 unter der Überschrift „Rückforderung rechtswidriger Beihilfen” dieser Bekanntmachung lautet:
„Ist ein einzelstaatliches Gericht mit einer rechtswidrigen Beihilfe befasst, so muss es entsprechend dem einzelstaatlichen Recht sämtliche rechtlichen Folgerungen aus dieser Rechtswidrigkeit ziehen. Grundsätzlich muss das einzelstaatliche Gericht daher die vollständige Rückforderung der rechtswidrigen Beihilfe vom Empfänger anordnen … Dies ist Teil seiner Pflicht, die Rechte des Klägers (zum Beispiel des Wettbewerbers) nach Artikel 88 Absatz 3 EG-Vertrag zu schützen. Die Verpflichtung zur Rückforderung besteht für das einzelstaatliche Gericht somit unabhängig davon, ob die betreffende Beihilfemaßnahme mit Artikel 87 Absatz 2 oder 3 EG-Vertrag vereinbar ist.”
Rz. 7
Nr. 2.1 Abs. 3 der Mitteilung der Kommission über die An...