Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Europäischer Haftbefehl, der von der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats in einem Strafverfahren auf der Grundlage einer von ihr angeordneten freiheitsentziehenden Maßnahme ausgestellt worden ist. Keine gerichtliche Kontrolle vor der Übergabe der gesuchten Person. Folgen. Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz
Normenkette
Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 8 Abs. 1 Buchst. c; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Tenor
Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung im Lichte von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dahin auszulegen, dass die Anforderungen an den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, der einer Person zugutekommen muss, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung besteht, nicht erfüllt sind, wenn sowohl der Europäische Haftbefehl als auch die ihm zugrunde liegende justizielle Entscheidung von einem Staatsanwalt, der als „ausstellende Justizbehörde” im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses eingestuft werden kann, ausgestellt werden, beide aber vor der Übergabe der gesuchten Person durch den Vollstreckungsmitgliedstaat keiner gerichtlichen Kontrolle im Ausstellungsmitgliedstaat unterzogen werden können.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Westminster Magistrates’ Court (Bezirksgericht Westminster, Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 26. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Dezember 2020, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen
PI
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von PI, vertreten durch H. Malcolm, QC, und J. Kern, Barrister, im Auftrag von S. Bisnauthsing, Solicitor,
- der bulgarischen Regierung, vertreten durch L. Zaharieva und T. Tsingileva als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Februar 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) im Lichte von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Das Ersuchen ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls im Vereinigten Königreich, der von der Rayonna prokuratura Svichtov (Bezirksstaatsanwaltschaft Swischtow, Bulgarien) in einem gegen PI eingeleiteten Strafverfahren ausgestellt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 5, 6, 10 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:
„(5) Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen [den] Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.
(6) Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein’ der justiziellen Zusammenarbeit qual...