Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Öffentliche Bauaufträge. „Verpflichtungserklärung zur Vermietung” von noch nicht errichteten Gebäuden. Rechtskräftige nationalgerichtliche Entscheidung. Tragweite der Rechtskraftwirkung im Fall einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Situation
Normenkette
Richtlinie 93/37/EWG
Beteiligte
Impresa Pizzarotti & C. SpA |
Consiglio comunale di Bari |
Tenor
1. Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge ist dahin auszulegen, dass ein Vertrag, der die Errichtung eines Bauwerks, das den vom Auftraggeber genannten Erfordernissen genügt, zum Hauptgegenstand hat, einen öffentlichen Bauauftrag darstellt und daher nicht unter den Ausschluss in Art. 1 Buchst. a Ziff. iii der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge fällt, auch wenn er eine Verpflichtung enthält, das betreffende Bauwerk zu vermieten.
2. Sofern ein nationales Gericht wie das vorlegende, das letztinstanzlich entschieden hat, ohne dass der Gerichtshof der Europäischen Union zuvor nach Art. 267 AEUV mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst wurde, nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften hierzu befugt ist, muss es seine rechtskräftig gewordene Entscheidung, die zu einer mit den Vorschriften der Union über die Vergabe öffentlicher Aufträge unvereinbaren Situation geführt hat, entweder ergänzen oder rückgängig machen, um einer später vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung dieser Vorschriften Rechnung zu tragen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Italien) mit Entscheidung vom 11. Januar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 23. April 2013, in dem Verfahren
Impresa Pizzarotti & C. SpA
gegen
Comune di Bari,
Giunta comunale di Bari,
Consiglio comunale di Bari,
Beteiligte:
Complesso Residenziale Bari 2 Srl,
Commissione di manutenzione della Corte d'appello di Bari,
Giuseppe Albenzio als „Commissario ad acta”,
Ministero della Giustizia,
Regione Puglia
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts (Berichterstatter) sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis und J.-C. Bonichot,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Februar 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Impresa Pizzarotti & C. SpA, vertreten durch R. Mastroianni, D. Vaiano und F. Lorusso, avvocati,
- der Comune di Bari, vertreten durch A. Loiodice, I. Loiodice und R. Lanza, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Pignataro-Nolin, A. Tokár und A. Aresu als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Mai 2014
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 134, S. 114) sowie die Tragweite der Rechtskraftwirkung im Fall einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Situation.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Impresa Pizzarotti & C. SpA (im Folgenden: Pizzarotti) auf der einen Seite und der Comune di Bari (Gemeinde Bari), der Giunta comunale di Bari (Gemeindeverwaltung Bari) und dem Consiglio comunale di Bari (Gemeinderat Bari) auf der anderen Seite infolge der Veröffentlichung der Bekanntmachung einer Marktuntersuchung, um die italienische Justizverwaltung mit einem einheitlichen Sitz für alle in Bari (Italien) angesiedelten Gerichte auszustatten.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 92/50/EWG
Rz. 3
Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209, S. 1) bestimmte:
„Im Sinne dieser Richtlinie
a) gelten als ‚öffentliche Dienstleistungsaufträge’ die zwischen einem Dienstleistungserbringer und einem öffentlichen Auftraggeber geschlossenen schriftlichen entgeltlichen Verträge, ausgenommen
…
iii) ungeachtet deren Finanzmodalitäten Verträge über Erwerb oder Miete von oder Rechte an Grundstücken oder vorhandenen Gebäuden oder anderem unbeweglichen Vermögen …;
…”
Richtlinie 93/37/EWG
Rz. 4
Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 199, S. 54) definier...