Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Inhafthaltung der gesuchten Person. Fristen für den Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls. Nationale Rechtsvorschriften, wonach 90 Tage nach der Festnahme die Aussetzung der Haft von Amts wegen vorgesehen ist. Unionsrechtskonforme Auslegung. Aussetzung der Fristen. Recht auf Freiheit und Sicherheit. Unterschiedliche Auslegungen des nationalen Rechts. Klarheit und Vorhersehbarkeit

 

Normenkette

Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 12, 17; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 6

 

Beteiligte

TC

TC

 

Tenor

Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die eine allgemeine und unbedingte Verpflichtung zur Freilassung einer gesuchten und aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommenen Person vorsieht, sobald eine Frist von 90 Tagen seit ihrer Festnahme abgelaufen ist, wenn eine sehr ernsthafte Fluchtgefahr dieser Person besteht, die nicht durch geeignete Maßnahmen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden kann.

Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inhafthaltung einer gesuchten Person über die Frist von 90 Tagen hinaus zulässig ist und die auf einer Auslegung dieser nationalen Bestimmung beruht, nach der diese Frist ausgesetzt wird, wenn die vollstreckende Justizbehörde entweder beschließt, dem Gerichtshof der Europäischen Union eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen oder die Beantwortung einer von einer anderen vollstreckenden Justizbehörde zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage abzuwarten bzw. die Übergabeentscheidung wegen des möglichen Bestehens einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat aufzuschieben, wenn diese Rechtsprechung nicht sicherstellt, dass die nationale Bestimmung mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 in Einklang steht, und Abweichungen aufweist, die zu einer unterschiedlichen Dauer der Inhafthaltung führen können.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 27. Juli 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2018, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen

TC

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter), E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 27. Juli 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2018, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Oktober 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von TC, vertreten durch T. J. Kodrzycki und T. O. M. Dieben, advocaten,
  • des Openbaar Ministerie, vertreten durch R. Vorrink, J. Asbroek und K. van der Schaft, Officieren van Justitie,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. A. M. de Ree und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,
  • der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Kasalická als Bevollmächtigte,
  • von Irland, vertreten durch A. Joyce und G. Mullan als Bevollmächtigte,
  • der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, avvocato dello Stato,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. November 2018

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines von den zuständigen Behörden des Vereinigten Königreichs am 12. Juni 2017 gegen TC erlassenen Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden (im Folgenden: in Rede stehender Europäischer Haftbefehl).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Charta

Rz. 3

Art. 6 „Recht auf Freiheit und Sicherheit”) der Charta sieht vor:

„Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.”

Rahmenbeschluss 2002/584/JI

Rz. 4

Im zwölften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) heißt es:

„Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte ...

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