Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtliche Zuständigkeit in Zivilsachen. Art. 22 Nr. 2 und Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001. Ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Sitzstaats für Rechtsstreitigkeiten über die Gültigkeit von Beschlüssen der Organe von Gesellschaften. Umfang. Klage einer juristischen Person des öffentlichen Rechts auf Feststellung der Nichtigkeit eines Vertrags wegen der angeblichen Ungültigkeit der den Vertragsschluss betreffenden Entscheidungen ihrer Organe -Rechtshängigkeit. Verpflichtung des später angerufenen Gerichts zur Aussetzung. Reichweite
Beteiligte
Berliner Verkehrsbetriebe |
Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) |
JPMorgan Chase Bank NA, Frankfurt Branch |
Tenor
Art. 22 Nr. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass er keine Anwendung auf einen Rechtsstreit findet, in dem eine Gesellschaft geltend macht, ein Vertrag könne ihr nicht entgegengehalten werden, weil ein Beschluss ihrer Organe, der zum Abschluss des Vertrags geführt habe, wegen Verstoßes gegen ihre Satzung ungültig sei.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammergericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. März 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 18. März 2010, in dem Verfahren
Berliner Verkehrsbetriebe (BVG)
gegen
JPMorgan Chase Bank NA, Frankfurt Branch,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts (Berichterstatter) sowie der Richter D. Šváby, E. Juhász, G. Arestis und T. von Danwitz,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. März 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Anstalt des öffentlichen Rechts, vertreten durch Rechtsanwälte C. Stempfle und C. Volohonsky sowie durch T. Lord, Barrister,
- der JPMorgan Chase Bank NA, Frankfurt Branch, vertreten durch Rechtsanwälte K. Saffenreuther und C. Schmitt,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vlácil als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte im Beistand von A. Henshaw, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A.-M. Rouchaud-Joët, S. Grünheid und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 22 Nr. 2 und Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), Anstalt des öffentlichen Rechts (im Folgenden: BVG), und der JPMorgan Chase Bank NA (im Folgenden: JPM), Frankfurt Branch, betreffend einen Vertrag über ein Finanzderivat.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Im elften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es:
„Die Zuständigkeitsvorschriften müssen in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, und diese Zuständigkeit muss stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der … Vorschriften zu stärken …”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.”
Rz. 5
Art. 2 Abs. 1 der genannten Verordnung lautet:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.”
Rz. 6
Art. 22 Nrn. 1, 2 und 4 der Verordnung, der zu Kapitel II Abschnitt 6 gehört, bestimmt:
„Ohne Rücksicht auf den Wohnsitz sind ausschließlich zuständig:
für Klagen, welche dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen sowie die Miete oder Pacht von unbeweglichen Sachen zum Gegenstand haben, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die unbewegliche Sache belegen ist.
…
für Klagen, welche die Gültigkeit, die Nichtigkeit oder die Auflösung einer Gesellschaft oder juristischen Person oder die Gültigkeit der Beschlüsse ihrer Organe zum Gegenstand haben, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Gesellschaft oder juristische Person ihren Sitz hat. Bei der Entscheidung d...