Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Grundsatz ne bis in idem. Beurteilung anhand eines in der Begründung des Urteils geschilderten Sachverhalts. Beurteilung anhand eines im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens geprüften und in der Anklageschrift weggelassenen Sachverhalts. Begriff ‚dieselbe Tat‘
Normenkette
Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen Art. 54; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 50
Beteiligte
Tenor
Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen
ist im Licht von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass
bei der Beurteilung, ob der Grundsatzne bis in idembeachtet worden ist, nicht nur der im Anklagesatz der Anklageschrift der zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats sowie der im Tenor des dort ergangenen rechtskräftigen Urteils beschriebene Sachverhalt zu berücksichtigen sind, sondern auch der Sachverhalt, der in der Begründung dieses Urteils geschildert wird, und derjenige, der Gegenstand des Ermittlungsverfahrens war, aber nicht in die Anklageschrift übernommen wurde, sowie alle relevanten Angaben über die materielle Tat, auf die sich ein früheres, in diesem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig abgeschlossenes Strafverfahren bezieht.
Tatbestand
In der Rechtssache C-726/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Županijski sud u Puli-Pola (Gespanschaftsgericht Pula, Kroatien) mit Entscheidung vom 24. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 30. November 2021, in dem Strafverfahren gegen
GR,
HS,
IT,
Beteiligter:
Županijsko državno odvjetništvo u Puli-Pola,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: M. Longar, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Januar 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von GR, vertreten durch J. Grlić, Odvjetnik, und Rechtsanwalt B. Wiesinger,
- – von HS, vertreten durch V. Drenški-Lasan, Odvjetnica,
- – des Županijsko državno odvjetništvo u Puli-Pola, vertreten durch E. Putigna, Odvjetnik,
- – der kroatischen Regierung, vertreten durch G. Vidović Mesarek als Bevollmächtigte,
- – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und F. Zeder als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Dockry, M. Mataija und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. März 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) (im Folgenden: SDÜ) sowie von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das gegen GR, HS und IT geführt wird, weil sie in Kroatien im Rahmen von Handelsgeschäften Untreue begangen, zu deren Begehung angestiftet oder dazu Beihilfe geleistet haben sollen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
SDÜ
Rz. 3
Das SDÜ wurde geschlossen, um die Durchführung des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) sicherzustellen.
Rz. 4
Art. 54 SDÜ gehört zu dessen Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“). Dieser Artikel sieht vor:
„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“
Rz. 5
In Art. 57 Abs. 1 und 2 SDÜ heißt es:
„(1) Ist eine Person im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wegen einer Straftat angeschuldigt und haben die zuständigen Behörden dieser Vertragspartei Grund zu der Annahme, dass die Anschuldi...