Entscheidungsstichwort (Thema)
Niederlassungsfreiheit. Öffentliche Gesundheit. Apotheken. Angemessene Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln. Genehmigung des Betriebs. Territoriale Verteilung der Apotheken. Ziehung von Grenzen, die im Wesentlichen auf einem demografischen Kriterium beruhen. Mindestentfernung zwischen den Apotheken
Normenkette
AEUV Art. 49
Beteiligte
Tenor
Art. 49 AEUV, insbesondere das Gebot der Kohärenz bei der Verfolgung des angestrebten Ziels, ist dahin auszulegen, dass er einer mitgliedstaatlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, die als essenzielles Kriterium bei der Prüfung des Bedarfs an einer neu zu errichtenden öffentlichen Apotheke eine starre Grenze von „weiterhin zu versorgenden Personen” festlegt, entgegensteht, weil die zuständigen nationalen Behörden keine Möglichkeit haben, von dieser Grenze abzuweichen, um örtliche Besonderheiten zu berücksichtigen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (Österreich) mit Entscheidung vom 24. Juli 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 1. August 2012, in dem Verfahren
Susanne Sokoll-Seebacher,
Beteiligte:
Agnes Hemetsberger als Rechtsnachfolgerin von Susanna Zehetner,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richter M. Safjan und J. Malenovský (Berichterstatter) sowie der Richterin A. Prechal und des Richters S. Rodin,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Sokoll-Seebacher, vertreten durch Rechtsanwältin E. Berchtold-Ostermann,
- von Frau Hemetsberger, vertreten durch Rechtsanwalt C. Schneider,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Müller als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und A. P. Antunes als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und I. Rogalski als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV sowie der Art. 16 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht in einem von Frau Sokoll-Seebacher angestrengten Verfahren, das die Eröffnung einer neuen Apotheke auf dem Gebiet der Gemeinde Pinsdorf im Land Oberösterreich betrifft.
Österreichisches Recht
Rz. 3
§ 10 Apothekengesetz in der Fassung des BGBl. I Nr. 41/2006 (im Folgenden: ApG) bestimmt:
„(1) Die Konzession für eine neu zu errichtende öffentliche Apotheke ist zu erteilen, wenn
- in der Gemeinde des Standortes der öffentlichen Apotheke ein Arzt seinen ständigen Berufssitz hat und
- ein Bedarf an einer neu zu errichtenden öffentlichen Apotheke besteht.
(2) Ein Bedarf besteht nicht, wenn
- sich zum Zeitpunkt der Antragstellung in der Gemeinde der in Aussicht genommenen Betriebsstätte eine ärztliche Hausapotheke befindet und weniger als zwei Vertragsstellen … (volle Planstellen) von Ärzten für Allgemeinmedizin besetzt sind oder
- die Entfernung zwischen der in Aussicht genommenen Betriebsstätte der neu zu errichtenden öffentlichen Apotheke und der Betriebsstätte der nächstgelegenen bestehenden öffentlichen Apotheke weniger als 500 m beträgt oder
- die Zahl der von der Betriebsstätte einer der umliegenden bestehenden öffentlichen Apotheken aus weiterhin zu versorgenden Personen sich in Folge der Neuerrichtung verringert und weniger als 5 500 betragen wird.
(3) Ein Bedarf gemäß Abs. 2 Z 1 besteht auch dann nicht, wenn sich zum Zeitpunkt der Antragstellung in der Gemeinde der in Aussicht genommenen Betriebsstätte der öffentlichen Apotheke
- eine ärztliche Hausapotheke und
- eine Vertragsgruppenpraxis befindet …
…
(4) Zu versorgende Personen gemäß Abs. 2 Z 3 sind die ständigen Einwohner aus einem Umkreis von vier Straßenkilometern von der Betriebsstätte der bestehenden öffentlichen Apotheke, die auf Grund der örtlichen Verhältnisse aus dieser bestehenden öffentlichen Apotheke weiterhin zu versorgen sein werden.
(5) Beträgt die Zahl der ständigen Einwohner im Sinne des Abs. 4 weniger als 5 500, so sind die auf Grund der Beschäftigung, der Inanspruchnahme von Einrichtungen und des Verkehrs in diesem Gebiet zu versorgenden Personen bei der Bedarfsfeststellung zu berücksichtigen.
(6) Die Entfernung gemäß Abs. 2 Z 2 darf ausnahmsweise unterschritten werden, wenn es besondere örtliche Verhältnisse im Interesse einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung dringend gebieten.
(7) Zur Frage des Bedarfes an einer neu zu errichtenden öffentlichen Apotheke ist ein Gutachten der österreichischen Apothekerkammer einzuholen. …
…”
Rz. 4
§ 47 ...