Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung. Zuständigkeit auf dem Gebiet der Unterhaltspflichten. Entgegengesetzte Entscheidungen von Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten. Kind mit gewöhnlichem Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, in dem sich seine Mutter aufhält. Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich der Vater aufhält, für die Änderung einer rechtskräftigen Entscheidung, die sie zuvor bezüglich des Aufenthaltsorts des Kindes, der Unterhaltspflichten und der Ausübung des Umgangsrechts erlassen haben. Fehlen
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 8-15; Verordnung (EG) Nr. 4/2009 Art. 3 Buchst. d
Beteiligte
Tenor
Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 und Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen sind dahin auszulegen, dass in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaats, die eine rechtskräftige Entscheidung betreffend die elterliche Verantwortung und die Unterhaltspflichten für ein minderjähriges Kind erlassen haben, nicht mehr dafür zuständig sind, über einen Antrag auf Änderung der in dieser Entscheidung getroffenen Verfügungen zu entscheiden, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat. Für die Entscheidung über den Antrag sind die Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats zuständig.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius, Litauen) mit Entscheidung vom 16. September 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 22. September 2015, in dem Verfahren
W,
V
gegen
X
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. November 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von W und V, vertreten durch P. Markevičius,
- von X, vertreten durch R. de Falco, advokatas,
- der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und J. Nasutavičienė als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Dezember 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen W und V (im Folgenden: Kind V) auf der einen und X auf der anderen Seite betreffend die elterliche Verantwortung und die Unterhaltspflichten.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 2201/2003
Rz. 3
Der zwölfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:
„Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.”
Rz. 4
Art. 2 („Begriffsbestimmungen”) der Verordnung sieht vor:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
7. ‚elterliche Verantwortung’ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;
…”
Rz. 5
Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit”) der Verordnung bestimmt:
„(1) Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
(2) Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.”
Rz. 6
Art. 12 („Vereinbarung über die Zuständigkeit”) der Verordnung bestimmt in den Abs. 1...