Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über die elterliche Verantwortung. Öffentliche Ordnung
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 23 Buchst. a
Beteiligte
Tenor
Art. 23 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass diese Bestimmung es einem Gericht eines Mitgliedstaats, das seine Zuständigkeit für die Entscheidung über das Sorgerecht für ein Kind bejaht, nicht gestattet, der von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats getroffenen Entscheidung über das Sorgerecht für dieses Kind die Anerkennung zu versagen, sofern unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes keine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts vorliegt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varbergs tingsrätt (Gericht erster Instanz Varberg, Schweden) mit Entscheidung vom 25. August 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 28. August 2015, in dem Verfahren
P
gegen
Q
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterinnen A. Prechal (Berichterstatterin) und K. Jürimäe,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Oktober 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von P, vertreten durch A. Heurlin, advokat, und M. Hellner,
- von Q, vertreten durch K. Gerbauskas und H. Mackevičius, advokatai,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, U. Persson, C. Meyer-Seitz und L. Swedenborg als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch M. Sampol Pucurull als Bevollmächtigten,
- der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und J. Nasutavičienė als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten im Beistand von S. Samuelsson und M. Johansson, advokater,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1), insbesondere ihrer Art. 23 Buchst. a und 24.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen P, wohnhaft in Schweden, und Q, wohnhaft in Litauen, wegen des Sorgerechts für ihre Kinder.
Rechtlicher Rahmen
Haager Übereinkommen von 1980
Rz. 3
In Art. 13 des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) heißt es:
„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,
- dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder
- dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.
Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.
…”
Rz. 4
Das Haager Übereinkommen von 1980 trat am 1. Dezember 1983 in Kraft. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Vertragsstaaten dieses Übereinkommens.
Unionsrecht
Rz. 5
Der 21. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:
„Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.”
Rz. 6
Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit”) der Ve...