Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Freier Dienstleistungsverkehr. Gleichbehandlungsgrundsatz und Diskriminierungsverbot. Transparenzpflicht. Geltungsbereich dieser Pflicht. Nationale Tarifverträge. System der sozialen Sicherung, das das allgemeine System ergänzt. Bestimmung einer mit der Verwaltung dieses Systems beauftragten Versorgungseinrichtung durch die Tarifpartner. Verbindlicherklärung des Systems für sämtliche Arbeitnehmer und Arbeitgeber der Branche durch Ministerialerlass. Zeitliche Begrenzung der Wirkungen einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs
Normenkette
AEUV Art. 56
Beteiligte
Beaudout Père et Fils SARL |
Union des syndicats de l'immobilier (UNIS) |
Ministre du Travail, de l'Emploi et de la Formation professionnelle et du Dialogue social |
Syndicat national des résidences de tourisme (SNRT) u. a |
Confédération nationale de la boulangerie et boulangerie-pâtisserie française |
Fédération générale agro-alimentaire – CFDT u. a |
Tenor
Die sich aus Art. 56 AEUV ergebende Transparenzpflicht steht der von einem Mitgliedstaat vorgenommenen Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines von den Arbeitgeberorganisationen und den Arbeitnehmerorganisationen einer Branche geschlossenen Tarifvertrags für sämtliche Arbeitgeber und Arbeitnehmer dieser Branche entgegen, mit dem die Verwaltung eines zusätzlichen Pflichtvorsorgesystems für die Arbeitnehmer einem einzigen, von den Tarifpartnern ausgewählten Wirtschaftsteilnehmer übertragen wird, ohne dass die nationale Regelung eine angemessene Öffentlichkeit vorsieht, die es der zuständigen Behörde ermöglicht, mitgeteilte Informationen über das Vorliegen eines günstigeren Angebots in vollem Umfang zu berücksichtigen.
Die Wirkungen des vorliegenden Urteils gelten nicht für die eine einzige Einrichtung mit der Verwaltung eines Zusatzvorsorgesystems beauftragenden Tarifverträge, die vor der Verkündung des vorliegenden Urteils von einer Behörde für sämtliche Arbeitgeber und Arbeitnehmer einer Branche für verbindlich erklärt wurden, wobei vor diesem Zeitpunkt erhobene Klagen unberührt bleiben.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d'État (Frankreich) mit Entscheidungen vom 30. Dezember 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Januar 2014, in den Verfahren
Union des syndicats de l'immobilier (UNIS)
gegen
Ministre du Travail, de l'Emploi et de la Formation professionnelle et du Dialogue social,
Syndicat national des résidences de tourisme (SNRT) u. a. (C-25/14)
und
Beaudout Père et Fils SARL
gegen
Ministre du Travail, de l'Emploi et de la Formation professionnelle et du Dialogue social,
Confédération nationale de la boulangerie et boulangerie-pâtisserie française,
Fédération générale agro-alimentaire – CFDT u. a. (C-26/14)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer T. von Danwitz in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter D. Šváby (Berichterstatter), A. Rosas, E. Juhász und C. Vajda,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Union des syndicats de l'immobilier (UNIS), vertreten durch C. Bertrand und F. Blancpain, avocats,
- der Beaudout Père et Fils SARL, vertreten durch F. Uroz und P. Praliaud, avocats,
- des Syndicat national des résidences de tourisme (SNRT) u. a., vertreten durch J.-J. Gatineau, avocat,
- der Confédération nationale de la boulangerie et boulangerie-pâtisserie française, vertreten durch D. Le Prado und J. Barthélémy, avocats,
- der Fédération générale agroalimentaire – CFDT u. a., vertreten durch O. Coudray, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, R. Coesme und F. Gloaguen als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, L. Van den Broeck und J. Van Holm als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Tokár und O. Beynet als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. März 2015
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 56 AEUV.
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von zwei Verfahren, in denen die Union des syndicats de l'immobilier (UNIS) und die Beaudout Père et Fils SARL zwei Erlasse des Ministre du Travail, de l'Emploi et de la Formation professionnelle et du Dialogue social (Minister für Arbeit, Beschäftigung und Berufsausbildung sowie den sozialen Dialog) anfechten, mit denen für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber der betroffenen Branche bestimmte Tarifverträge für verbindlich erklärt wurden, durch die eine einzige Versorgungseinrichtung zu der Einrichtung bestimmt wurde, die ein oder mehrere Systeme der Zusatzvorsorge oder -krankenversicherung verwaltet.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Nach Art. L. 911-1 des Code de la sécurité sociale (Sozialgesetzbuch) in der in den Ausga...