Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freier Dienstleistungsverkehr. Art. 49 AEUV. Richtlinie 2006/123/EG. Art. 15. Honorare für Architekten und Ingenieure. Festgesetzte Mindestpreise. Unmittelbare Wirkung. Im Laufe eines Verfahrens vor einem nationalen Gericht ergangenes Vertragsverletzungsurteil
Beteiligte
Thelen Technopark Berlin GmbH |
Tenor
Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sich ausschließlich Privatpersonen gegenüberstehen, nicht allein aufgrund dieses Rechts verpflichtet ist, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die unter Verstoß gegen Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt Mindesthonorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren festsetzt und die Unwirksamkeit von Vereinbarungen vorsieht, die von dieser Regelung abweichen, jedoch unbeschadet zum einen der Möglichkeit dieses Gerichts, die Anwendung der Regelung im Rahmen eines solchen Rechtsstreits aufgrund des innerstaatlichen Rechts auszuschließen, und zum anderen des Rechts der durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigten Partei, Ersatz des ihr daraus entstandenen Schadens zu verlangen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Mai 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juni 2020, in dem Verfahren
Thelen Technopark Berlin GmbH
gegen
MN
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und S. Rodin (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin I. Ziemele und des Kammerpräsidenten J. Passer, der Richter M. Ilešič,
F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Piçarra sowie der Richterin L. S. Rossi, Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Mai 2021, unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Thelen Technopark Berlin GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt M. Schultz,
- von MN, vertreten durch Rechtsanwälte V. Vorwerk und H. Piorreck, sodann durch Rechtsanwalt V. Vorwerk,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. L. Noort,
- M. H. S. Gijzen und J. Langer als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Armati, L. Malferrari, W. Mölls und
- M. Kellerbauer als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Juli 2021 folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV sowie von Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Thelen Technopark Berlin GmbH (im Folgenden: Thelen) und MN über die Zahlung eines Honorars an MN.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/123 heißt es:
„[Die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit von Dienstleistungserbringern in den Mitgliedstaaten und des freien Dienstleistungsverkehrs zwischen Mitgliedstaaten] können nicht allein durch die direkte Anwendung der Artikel [49 und 56 AEUV] beseitigt werden, weil – insbesondere nach der Erweiterung – die Handhabung von Fall zu Fall im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren sowohl für die nationalen als auch für die … Organe [der Union] äußerst kompliziert wäre; außerdem können zahlreiche Beschränkungen nur im Wege der vorherigen Koordinierung der nationalen Regelungen beseitigt werden, einschließlich der Einführung einer Verwaltungszusammenarbeit. Wie vom Europäischen Parlament und vom Rat [der Europäischen Union] anerkannt wurde, ermöglicht ein … Rechtsinstrument [der Union] die Schaffung eines wirklichen Binnenmarktes für Dienstleistungen.”
Rz. 4
Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Diese Richtlinie gilt für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden.”
Rz. 5
Art. 15 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.
(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:
…
g) der Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstpreis...