Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dublin-System. Überstellung des Asylbewerbers in den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat. Begriff ‚Flucht’. Modalitäten der Verlängerung der Überstellungsfrist. Ernsthaftes Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Abschluss des Asylverfahrens. Lebensverhältnisse der Personen, denen in dem Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 604/2013; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 4
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass ein Antragsteller „flüchtig ist” im Sinne dieser Bestimmung, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Der Antragsteller behält die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er diesen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen.
Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass im Rahmen eines Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 der Verordnung berufen und geltend machen kann, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, weil sie nicht flüchtig gewesen sei.
2. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass es für die Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt.
3. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dem entgegensteht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 29 der Verordnung Nr. 604/2013 in den nach dieser Verordnung normalerweise für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird, wenn dieser Antragsteller im Fall der Gewährung eines solchen Schutzes in diesem Mitgliedstaat aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort als international Schutzberechtigten erwarten würden, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, in seinen Anwendungsbereich fällt.
Art. 4 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass er einer solchen Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht entgegensteht, es sei denn, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht stellt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte fest, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 15. März 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 3. April 2017, in dem Verfahren
Abubacarr Jawo
gegen
Bundesrepublik Deutschland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan und F. Biltgen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe und des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, M. Ilešič (Berichterstatter), J. Malenovský, L. Bay Larsen und D. Šváby,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Jawo, vertreten durch die Rechtsanwälte B. Münch und U. Bargon,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, R. Kanitz, M. Henning und V. Thanisch als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regieru...