Entscheidungsstichwort (Thema)
Nationales Verwaltungsverfahren. Verwaltungsakte. Begründungspflicht. Möglichkeit, im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens gegen einen Verwaltungsakt eine fehlende Begründung nachzuholen. Auslegung der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Unzuständigkeit des Gerichtshofs
Beteiligte
Tenor
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana (Italien), mit Entscheidung vom 20. September 2010 vorgelegten Fragen nicht zuständig.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana (Italien), mit Entscheidung vom 20. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Oktober 2010, in dem Verfahren
Teresa Cicala
gegen
Regione Siciliana
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts sowie der Richter E. Juhász, G. Arestis, T. von Danwitz (Berichterstatter) und D. Šváby,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Regione Siciliana, vertreten durch V. Farina und D. Bologna, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,
- der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Möller und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch E.-M. Mamouna, K. Paraskevopoulou und I. Bakopoulos als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und H. Kraemer als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der Pflicht zur Begründung von Rechtsakten der öffentlichen Verwaltung nach den Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Cicala und der Regione Siciliana über eine Entscheidung, in der vorgesehen wurde, die Pension von Frau Cicala herabzusetzen und für abgelaufene Zeiträume gezahlte Beträge zurückzufordern.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 241 vom 7. August 1990 über neue Vorschriften betreffend das Verwaltungsverfahren und das Recht auf Zugang zu Verwaltungsunterlagen (GURI Nr. 192 vom 18. August 1990, S. 7) in der durch das Gesetz Nr. 15 vom 11. Februar 2005 (GURI Nr. 42 vom 21. Februar 2005, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 241/1990) sieht vor:
„Das Verwaltungshandeln verfolgt gesetzlich vorgesehene Ziele und unterliegt den Kriterien der Wirtschaftlichkeit, der Effizienz, der Unparteilichkeit, der Öffentlichkeit und der Transparenz nach den im vorliegenden Gesetz und in anderen Vorschriften über einzelne Verfahren vorgesehenen Modalitäten sowie den Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung.”
Rz. 4
Art. 3 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. 241/1990 bestimmt bezüglich der Begründungspflicht:
- „Außer in den in Abs. 2 vorgesehenen Fällen muss jede Entscheidung der Verwaltung … begründet sein. Die Begründung muss die tatsächlichen Umstände und rechtlichen Gründe angeben, die die Verwaltung in Anbetracht der Ergebnisse der vorherigen Prüfung der Sache dazu veranlasst haben, diese Entscheidung zu treffen.
- Rechtsetzungsakte und Rechtsakte mit allgemeiner Geltung bedürfen keiner Begründung.”
Rz. 5
Art. 21 octies Abs. 2 Unterabs. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 lautet:
„Eine unter Verstoß gegen die Verfahrens- oder Formvorschriften erlassene Entscheidung kann nicht aufgehoben werden, wenn aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine gebundene Entscheidung handelt, offensichtlich ist, dass ihr Regelungsgehalt nicht anders hätte lauten können als konkret beschlossen.”
Rz. 6
Art. 3 des sizilianischen Regionalgesetzes Nr. 10 vom 30. April 1991 mit Bestimmungen über Verwaltungsentscheidungen, den Zugang zu Verwaltungsunterlagen und die Verbesserung der Funktionsweise des Verwaltungshandelns (im Folgenden: sizilianisches Regionalgesetz Nr. 10/1991) hat Art. 3 des Gesetzes Nr. 241/1990 wörtlich übernommen.
Rz. 7
Art. 37 des sizilianischen Regionalgesetzes Nr. 10/1991 bestimmt:
„Soweit in diesem Gesetz nichts anderes vorgesehen ist, gelten, sofern sie vereinbar sind, die Bestimmungen des Gesetzes [Nr. 241/1990], spätere Änderungen und Ergänzungen sowie die dazugehörenden Durchführungsmaßnahmen.”
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 8
Frau Cicala bezieht von der Region Sizilien, deren Beschäftigte sie war, ein Ruhegehalt. Mit Schreiben aus dem Jahr 1997 teilte die Region Sizilien der Bet...