Entscheidungsstichwort (Thema)

Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2001/220/JI. Stellung des Opfers im Strafverfahren. Schutz von gefährdeten Personen. Vernehmung Minderjähriger als Zeugen. Beweissicherungsverfahren. Weigerung der Staatsanwaltschaft, beim Ermittlungsrichter eine Vernehmung zu beantragen

 

Beteiligte

XX

 

Tenor

Die Art. 2, 3 und 8 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Bestimmungen wie den Art. 392 Abs. 1bis, 398 Abs. 5bis und 394 CPP nicht entgegenstehen, die zum einen keine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft vorsehen, in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens beim Gericht zu beantragen, eine besonders gefährdete Person nach den Modalitäten des Beweissicherungsverfahrens anzuhören und aussagen zu lassen, und zum anderen es dem genannten Opfer nicht erlauben, sich gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Ablehnung seines Antrags, nach den genannten Modalitäten gehört zu werden und auszusagen, gerichtlich zur Wehr zu setzen.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Ermittlungsrichter beim Tribunale di Firenze (Italien) mit Entscheidung vom 8. Oktober 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Oktober 2010, in dem Strafverfahren gegen

X,

Beteiligte:

Y,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) sowie der Richter U. Lõhmus, A. Rosas, A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Herrn X, vertreten durch F. Bagattini, avvocato,
  • von Frau Y, vertreten durch G. Vitiello und G. Paloscia, avvocati,
  • der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Arena, avvocato dello Stato,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,
  • von Irland, vertreten durch D. O'Hagan als Bevollmächtigten,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. de Ree als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Recchia und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2011

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafprozesses gegen Herrn X, der beschuldigt wird, sexuelle Handlungen an seiner minderjährigen Tochter Y vorgenommen zu haben.

Rechtlicher Rahmen

Der Rahmenbeschluss

Rz. 3

„Opfer” im Sinne des Rahmenbeschlusses ist nach dessen Art. 1 Buchst. a „eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen”.

Rz. 4

Art. 2 („Achtung und Anerkennung”) des Rahmenbeschlusses lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in ihren Strafrechtssystemen Opfern tatsächlich und angemessen Rechnung getragen wird. Sie bemühen sich weiterhin nach Kräften, um zu gewährleisten, dass das Opfer während des Verfahrens mit der gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde behandelt wird, und erkennen die Rechte und berechtigten Interessen des Opfers insbesondere im Rahmen des Strafverfahrens an.

(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass besonders gefährdete Opfer eine ihrer Situation am besten entsprechende spezifische Behandlung erfahren.”

Rz. 5

Art. 3 („Vernehmung und Beweiserbringung”) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann.

Die Mitgliedstaaten ergreifen die gebotenen Maßnahmen, damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen.”

Rz. 6

Art. 8 („Recht auf Schutz”) des Rahmenbeschlusses lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten gewährleisten ein angemessenes Schutzniveau für die Opfer und gegebenenfalls ihre Familien oder gleichgestellte Personen, insbesondere hinsichtlich ihrer persönlichen Sicherheit und des Schutzes ihrer Privatsphäre, wenn die zuständigen Behörden der Auffassung sind, dass die ernste Gefahr von Racheakten besteht oder schlüssige Beweise für eine schwere und absichtliche Störung der Privatsphäre vorliegen.

(2) Zu diesem Zweck und unbeschadet des Absatzes 4 gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass bei Bedarf im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geeignete Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre sowie vor Lichtbildaufnahmen des Opfers, seiner Familienangehörigen oder gleich...

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