Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Erdgasbinnenmarkt. Begriff ‚Fernleitung’. Entscheidungsbefugnisse bezüglich des Anschlusses von Speicheranlagen, Flüssiggas (LNG). Wiederverdampfungsanlagen und Industriekunden an das Fernleitungsnetz. Netzzugang Dritter. Möglichkeit des unmittelbaren Anschlusses von Endkunden an das Erdgasfernleitungsnetz

 

Normenkette

Richtlinie 2009/73/EG Art. 2 Nr. 3, Art. 23, 32 Abs. 1

 

Beteiligte

Latvijas Gāze

„Latvijas Gāze” AS

 

Tenor

1. Art. 23 und Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG sind dahin auszulegen, dass aus diesen Bestimmungen nicht hervorgeht, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, eine rechtliche Regelung zu erlassen, nach der zum einen jeder Endkunde wählen kann, entweder an das Erdgasfernleitungsnetz oder an das Erdgasverteilernetz angeschlossen zu werden, und zum anderen der betreffende Netzbetreiber verpflichtet ist, ihm den Anschluss an das entsprechende Netz zu gestatten.

2. Art. 23 der Richtlinie 2009/73 ist dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, eine rechtliche Regelung zu erlassen, nach der es ausschließlich Industriekunden gestattet ist, sich an das Erdgasfernleitungsnetz anzuschließen.

3. Art. 2 Nr. 3 und Art. 23 der Richtlinie 2009/73 sind dahin auszulegen, dass sie einer rechtlichen Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der die Fernleitung von Erdgas dessen Transport direkt bis zum Erdgasversorgungsnetz eines Endkunden umfasst.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Latvijas Republikas Satversmes tiesa (Verfassungsgerichtshof, Lettland) mit Entscheidung vom 11. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juni 2020, in dem Verfahren

„Latvijas Gāze” AS,

Beteiligte:

Latvijas Republikas Saeima,

Sabiedrisko pakalpojumu regulēšanas komisija,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer (Berichterstatter) und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der „Latvijas Gāze” AS, vertreten durch L. Liepa, Advokāts,
  • der Sabiedrisko pakalpojumu regulēšanas komisija, zunächst vertreten durch R. Irklis, dann durch I. Birziņš,
  • der lettischen Regierung, zunächst vertreten durch K. Pommere und V. Soņeca, dann durch K. Pommere als Bevollmächtigte,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
  • der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch O. Beynet und A. Sauka als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Oktober 2021

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 3, Art. 23 und Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. 2009, L 211, S. 94).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde der „Latvijas Gāze” AS gegen eine Entscheidung der Sabiedrisko pakalpojumu regulēšanas komisija (Regulierungskommission für öffentliche Dienstleistungen, Lettland) (im Folgenden: Regulierungsbehörde), die vorsieht, dass sich jeder Erdgasnutzer unter bestimmten Bedingungen auch ohne die Mitwirkung eines Erdgasverteilernetzbetreibers an das Erdgasfernleitungsnetz anschließen darf.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2009/73

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 3, 4, 8, 14, 16, 23 bis 26 und 61 der Richtlinie 2009/73 heißt es:

„(3) Die Freiheiten, die der Vertrag den Bürgern der Union garantiert unter anderem der freie Warenverkehr, die Niederlassungsfreiheit und der freie Dienstleistungsverkehr, sind nur in einem vollständig geöffneten Markt erreichbar, der allen Verbrauchern die freie Wahl ihrer Lieferanten und allen Anbietern die freie Belieferung ihrer Kunden gestattet.

(4) Derzeit gibt es jedoch Hindernisse für den Verkauf von Erdgas in der Gemeinschaft zu gleichen Bedingungen und ohne Diskriminierung oder Benachteiligung. Insbesondere gibt es noch nicht in allen Mitgliedstaaten einen nichtdiskriminierenden Netzzugang und eine gleichermaßen wirksame Regulierungsaufsicht.

(8) Nur durch die Beseitigung der für vertikal integrierte Unternehmen bestehenden Anreize, Wettbewerber in Bezug auf den Netzzugang und auf Investitionen zu diskriminieren, kann eine wirksame Entflechtung gewährleistet werden. Eine eigentumsrechtliche Entflechtung, die darin besteht, dass der Netzeigentümer als Netzbetreiber benannt wird und von Versorgungs- und Erzeugu...

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