Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Sozialpolitik. Richtlinie 1999/70/EG. Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge. Paragraf 8. Zwingende Angaben in einem zur Vertretung eines abwesenden Arbeitnehmers geschlossenen befristeten Arbeitsvertrag. Senkung des allgemeinen Niveaus des Arbeitnehmerschutzes. Konforme Auslegung
Beteiligte
Tenor
1. Paragraf 8 Nr. 3 der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen, die die Verpflichtung des Arbeitgebers, in befristeten Verträgen, die zur Vertretung abwesender Arbeitnehmer geschlossen werden, die Namen der betreffenden Arbeitnehmer und den Grund für deren Vertretung anzugeben, abgeschafft hat und für derartige befristete Verträge lediglich Schriftform und die Angabe der Gründe für die Befristung vorschreibt, nicht entgegensteht, sofern diese neuen Bedingungen durch andere Garantien oder Schutzmaßnahmen ausgeglichen werden oder nur eine begrenzte Kategorie von Arbeitnehmern mit einem befristeten Arbeitsvertrag betreffen, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
2. Da Paragraf 8 Nr. 3 der Rahmenvereinbarung keine unmittelbare Wirkung hat, darf das vorlegende Gericht die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften, wenn es sie für mit dem Unionsrecht unvereinbar hält, nicht unangewandt lassen, sondern muss sie so weit wie möglich im Einklang mit der Richtlinie 1999/70 und dem mit der Rahmenvereinbarung verfolgten Zweck auslegen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Tribunale di Trani (Italien) mit Entscheidung vom 9. Juni 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 6. März 2009, in dem Verfahren
Francesca Sorge
gegen
Poste Italiane SpA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot sowie der Richterin C. Toader und der Richter K. Schiemann, P. Kūris (Berichterstatter) und L. Bay Larsen,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. März 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Sorge, vertreten durch V. Martire und V. De Michele, avvocati,
- der Poste Italiane SpA, vertreten durch R. Pessi, L. Fiorillo und A. Maresca, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels und M. Noort als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und C. Cattabriga als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. April 2010
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Paragraf 8 Nr. 3 der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (im Folgenden: Rahmenvereinbarung) im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. L 175, S. 43).
Rz. 2
\Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Sorge und ihrer Arbeitgeberin, der Poste Italiane SpA (im Folgenden: Poste Italiane), über die Rechtmäßigkeit der Klausel, mit der der Arbeitsvertrag von Frau Sorge befristet wurde, ohne dass der Name des vertretenen Arbeitnehmers oder die Gründe für dessen Abwesenheit angegeben wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Richtlinie 1999/70 stützt sich auf Art. 139 Abs. 2 EG. Nach ihrem Art. 1 soll mit ihr „die … Rahmenvereinbarung … durchgeführt werden”.
Rz. 4
Der dritte Erwägungsgrund dieser Richtlinie lautet:
„Nummer 7 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer sieht unter anderem folgendes vor: ‚Die Verwirklichung des Binnenmarktes muss zu einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft führen. Dieser Prozess erfolgt durch eine Angleichung dieser Bedingungen auf dem Wege des Fortschritts und betrifft namentlich andere Arbeitsformen als das unbefristete Arbeitsverhältnis, wie das befristete Arbeitsverhältnis, Teilzeitarbeit, Leiharbeit und Saisonarbeit’.”
Rz. 5
Der zweite Absatz der Präambel der Rahmenvereinbarung bestimmt:
„Die Unterzeichnerparteien dieser Vereinbarung erkennen an, dass unbefristete Verträge die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern darstellen und weiter darstellen werden. Sie erkennen auch an, dass befristete Beschäftigungsverträge unter bestimmten Umständen den Bedürfnissen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern entsprechen.”
Rz. 6
Dem dritten Absatz dieser Präambel zufolge legt die Rahmenve...