Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialpolitik. Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge. Diskriminierungsverbot. Begriff ‚Beschäftigungsbedingungen’. Innerstaatliche Rechtsvorschriften, die im Fall der rechtswidrigen Aufnahme einer Befristungsklausel in einen Arbeitsvertrag eine andere Entschädigungsregelung vorsehen als bei der rechtswidrigen Auflösung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses
Normenkette
Richtlinie 1999/70/EG
Beteiligte
Tenor
1. Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, die sich im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge befindet, ist dahin auszulegen, dass er einer staatlichen Einrichtung wie der Poste Italiane SpA unmittelbar entgegengehalten werden kann.
2. Paragraf 4 Nr. 1 dieser Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Beschäftigungsbedingungen” die Entschädigung umfasst, die ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer aufgrund der rechtswidrigen Aufnahme einer Befristungsklausel in seinen Arbeitsvertrag zu zahlen hat.
3. Diese Rahmenvereinbarung verwehrt es den Mitgliedstaaten zwar nicht, eine günstigere Behandlung als die in ihr für befristet beschäftigte Arbeitnehmer vorgesehene einzuführen, Paragraf 4 Nr. 1 dieser Rahmenvereinbarung ist indessen dahin auszulegen, dass er nicht verlangt, die im Fall der rechtswidrigen Aufnahme einer Befristungsklausel in einen Arbeitsvertrag gewährte Entschädigung genauso zu behandeln wie die im Fall der rechtswidrigen Auflösung eines unbefristeten Arbeitsvertrags gezahlte Entschädigung.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Napoli (Italien) mit Entscheidung vom 13. Juni 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Juli 2012, in dem Verfahren
Carmela Carratù
gegen
Poste Italiane SpA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juni 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Carratù, vertreten durch A. Cinquegrana und V. De Michele, avvocati,
- der Poste Italiane SpA, vertreten durch R. Pessi, A. Maresca, L. Fiorillo und G. Proia, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von C. Gerardis, avvocatessa dello Stato,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Szpunar als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und M. van Beek als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. September 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Paragraf 4 der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (im Folgenden: Rahmenvereinbarung), die sich im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. L 175, S. 43, im Folgenden: Richtlinie 1999/70) befindet, des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nach der Definition in Art. 6 EUV in Verbindung mit den Art. 47 und 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und mit Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sowie der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts wie etwa des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des Äquivalenzgrundsatzes und des Grundsatzes des Vertrauensschutzes.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Carratù und der Poste Italiane SpA (im Folgenden: Poste Italiane) über die Aufnahme einer Befristungsklausel in den zwischen ihr und dieser Gesellschaft geschlossenen Arbeitsvertrag.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Paragrafen 1, 4, 5 und 8 der Rahmenvereinbarung lauten:
„Paragraf 1: Gegenstand
Diese Rahmenvereinbarung soll:
- durch Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung die Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse verbessern;
- einen Rahmen schaffen, der den Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse verhindert.
…
Paragraf 4: Grundsatz der Nichtdiskriminierung
- Befristet beschäftigte Arbeitnehmer dürfen in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil für sie ein befristeter Arbeitsvertrag oder ein befristetes Arbeitsverhältnis gilt, gegenüber vergleichbaren Dauerbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus sachlichen Gründen gerechtfertigt.
- Es gilt, wo dies angemessen ist, der Pro-rata...