EuGH-Urteil zur Leiharbeit: Schlechtere Bezahlung nur bei tariflichem Nachteilsausgleich zulässig
Nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) steht Leiharbeitnehmenden grundsätzlich der gleiche Lohn wie vergleichbaren Stammarbeitnehmenden zu (Equal Pay). Nach § 8 Abs. 2 AÜG kann per Tarifvertrag davon abgewichen werden. Viele Tarifverträge für Leiharbeit sehen daher eine schlechtere Entlohnung von Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeitern vor. Das BAG hat einen Fall ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vorgelegt, ob diese tariflich geregelte schlechtere Bezahlung möglicherweise gegen unionsrechtliche Vorgaben verstößt.
EuGH: Tarifverträge müssen bei niedrigerem Lohn Ausgleich vorsehen
Der EuGH hat am 15. Dezember 2022 in seinem Urteil dazu klargestellt, dass es seiner Ansicht nach rechtlich zulässig ist, zulasten von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern in Tarifverträgen vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt abzuweichen.
Eine geringere Bezahlung der Leiharbeitnehmenden im Vergleich zu Stammarbeitnehmenden ist also grundsätzlich möglich. Allerdings legt der EuGH gleichzeitig fest, dass eine Benachteiligung bei der Vergütung nur zulässig ist, wenn es im Tarifvertrag dafür angemessene Vorteile in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmenden gebe. Diese Vorteile müssten Tarifverträge als Ausgleich gewähren, damit insgesamt der Gesamtschutz (dazu zählen neben dem Arbeitsentgelt die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub und arbeitsfreie Tage) der Leiharbeitnehmenden sichergestellt werde.
Der Fall: Leiharbeitnehmerin fordert gleiche Bezahlung wie Stammpersonal
Im konkreten Fall hatte eine Leiharbeitnehmerin die gleiche Bezahlung wie die Stammarbeitnehmer eines Einzelhandelsunternehmens verlangt. Diese erhielten nach dem Lohntarifvertrag für gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern einen Stundenlohn von 13,64 Euro brutto. Die Leiharbeitnehmerin erhielt in der Zeit, in der sie dem Unternehmen für dessen Auslieferungslager als Kommissioniererin überlassen war, zuletzt einen Stundenlohn von 9,23 Euro brutto. Unter dem Gesichtspunkt des Equal Pay fordert sie die Differenzvergütung für den Zeitraum von Januar bis April 2017.
Verleiher zahlt tariflich vorgesehene geringere Vergütung für Zeitarbeit
Die Leiharbeitnehmerin wurde von dem gewerblichen Personaldienstleister, bei dem sie beschäftigt war, nach den Tarifverträgen für die Leiharbeitsbranche bezahlt, die der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ e.V.) mit mehreren Gewerkschaften des DGB, darunter Verdi, geschlossen hat. Diese lassen eine Abweichung von dem in § 8 Abs. 1 AÜG verankerten Equal-Pay-Grundsatz zu und insbesondere eine geringere Vergütung als diejenige von Stammarbeitnehmenden im Entleihbetrieb. Die Leiharbeitnehmerin ist Verdi-Mitglied.
Die Leiharbeitnehmerin war der Auffassung, die für sie einschlägigen Tarifverträge seien nicht mit Unionsrecht (Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG) vereinbar. Der Personaldienstleister sah sich aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit nur zu der für Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer vorgesehenen tariflichen Vergütung verpflichtet. Unionsrecht werde durch die niedrigere Bezahlung seiner Meinung nach nicht verletzt.
Leiharbeit: EU-Recht verlangt Gleichstellung
Aufgabe des EuGH war es nun, zu konkretisieren, wie die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG verlangte "Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern" zu verstehen ist.
Nach Art. 5 Abs. 1 der EU-Leiharbeitsrichtlinie müssen die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmenden während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen entsprechen, die für sie gelten würden, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären (Grundsatz der Gleichbehandlung).
Tarifverträge mit geringerem Entgelt bei "Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern" erlaubt
Allerdings gestattet Art. 5 Abs. 3 der genannten Richtlinie den Mitgliedsstaaten, den Sozialpartnern die Möglichkeit einzuräumen, Tarifverträge zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern beim Arbeitsentgelt und den sonstigen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen. Eine Definition des "Gesamtschutzes" enthält die Richtlinie nicht, sein Inhalt und die Voraussetzungen für seine "Achtung" sind im Schrifttum umstritten. Für mehr Klarheit hat nun der EuGH gesorgt.
EuGH-Urteil definiert den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern
Die Luxemburger Richter hatten zu klären, inwieweit Abweichungen vom Grundsatz der Gleichstellung von Leiharbeitnehmenden und Stammarbeitnehmenden durch Tarifvertrag nach Unionsrecht zulässig sind.
Lässt ein Tarifvertrag Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern zu, muss dieser Tarifvertrag, um den Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeitnehmenden zu achten, ihnen im Gegenzug Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, die geeignet sind, ihre Ungleichbehandlung auszugleichen. Der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmenden wäre nämlich zwangsläufig geschwächt, wenn sich ein solcher Tarifvertrag in Bezug auf die Leiharbeitnehmenden darauf beschränkte, eine oder mehrere dieser wesentlichen Bedingungen zu verschlechtern.
Die Frage, ob die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmenden erfüllt ist, muss konkret geprüft werden: Und zwar indem für einen bestimmten Arbeitsplatz die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die für das Stammpersonal des entleihenden Unternehmen gelten, mit denen verglichen werden, die für Leiharbeitnehmende gelten. So kann festgestellt werden, ob die in Bezug auf diese wesentlichen Bedingungen gewährten Ausgleichsvorteile es ermöglichen, die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auszugleichen.
Tarifverträge müssen Gesamtschutz sicherstellen
Die Tarifvertragsparteien müssen, obwohl sie im Rahmen der Aushandlung und des Abschlusses von Tarifverträgen über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügen, unter Beachtung des Unionsrechts und der Richtlinie 2008/104 handeln und ihre Tarifverträge entsprechend gestalten. Die Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Gerichte, müssen dafür sorgen, dass Tarifverträge, die Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zulassen, insbesondere den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmenden sicherstellen. Diese Tarifverträge müssen daher einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen, damit die Gerichte überprüfen können, ob die Tarifvertragsparteien ihrer Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern nachkommen.
Hinweis: Urteil des EuGH vom 15. Dezember 2022, Rechtssache C‑311/21;
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 16. Dezember 2020, Az: 5 AZR 143/19 (A); Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 7. März 2019, Az: 5 Sa 230/18
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