Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Anerkennung und Vollstreckung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen. Begriff ‚öffentliche Ordnung’
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 44/2001
Beteiligte
Tenor
Art. 34 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Anerkennung und die Vollstreckung einer von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassenen Anordnung, die ohne vorherige Anhörung eines Dritten ergangen ist, dessen Rechte von dieser Anordnung betroffen sein können, nicht als der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht werden, und dem Recht auf ein faires Verfahren im Sinne dieser Bestimmungen offensichtlich widersprechend angesehen werden können, soweit es ihm möglich ist, seine Rechte vor diesem Gericht geltend zu machen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Augstakas tiesas Civillietu departaments (Oberster Gerichtshof, Senat für Zivilsachen, Lettland) mit Entscheidung vom 15. Oktober 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Dezember 2014, in dem Verfahren
Rudolfs Meroni
gegen
Recoletos Limited,
Beteiligte:
Aivars Lembergs,
Olafs Berķis,
Igors Skoks,
Genādijs Ševcovs,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Arabadjiev, J.-C. Bonichot, S. Rodin und E. Regan,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Rudolfs Meroni, vertreten durch D. Škutans, advokāts,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und E. Pedrosa als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von B. Kennelly, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Sauka und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. Februar 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 34 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Rudolfs Meroni und der Recoletos Limited über einen Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung einer vom High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Commercial Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Queen's Bench Division [Kammer für Handelssachen], Vereinigtes Königreich), erlassenen Entscheidung über einstweilige Sicherungsmaßnahmen in Lettland.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Charta
Rz. 3
In Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht”) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) heißt es:
„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.
…”
Rz. 4
In Titel VII („Allgemeine Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta”) sieht Art. 51 Abs. 1 der Charta vor:
„Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.”
Die Verordnung Nr. 44/2001
Rz. 5
Die Erwägungsgründe 16 bis 18 der Verordnung Nr. 44/2001 lauten:
„(16) Das gegenseitige Vertrauen in die Justiz im Rahmen der [Union] rechtfertigt, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen, außer im Falle der Anfechtung, von Rechts wegen, ohne ein besonderes Verfahren, anerkannt werden.
(17) Aufgrund dieses gegenseitigen Vertrauens ist es auch gerechtfertigt, dass das Verfahren, mit dem eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung für vollstreckbar erklärt wird, r...