Umweltverbände haben Klagebefugnis gegen Typgenehmigung für Thermofenster
Vor dem EuGH geht - bisher von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - der Streit um die sogenannten Thermofenster bei Dieselfahrzeugen in eine neue Runde.
Schadenersatz bei Einbau von „Schummelsoftware“
Im VW-Dieselskandal hatte der BGH Käufern von VW-Diesel-Fahrzeugen, deren Motor mit einer Steuerungssoftware ausgestattet war, die auf dem Rollenprüfstand den Stickoxidausstoß im Vergleich zur normalen Verkehrssituation reduziert, einen grundsätzlichen Anspruch auf Schadenersatz wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung zugesprochen (BGH, Urteil v. 30.7.2020, VI ZR 397/19; BGH, Urteil v. 6.7.2021, VI ZR 40/20).
BGH: Kein Schadenersatz bei Thermofenstern
Eine solche vorsätzliche sittenwidrige Schädigung hatte der BGH bei dem sogenannten Thermofenster verneint. Das Thermofenster bewirkt, dass u.a. bei niedrigen Außentemperaturen die Menge der in den Motor zum Zwecke der Verbrennung zurückgeführten Abgase gesenkt wird. Der Schadstoffausstoß wird hierdurch deutlich erhöht. Die Hersteller halten die Thermofenster für technisch erforderlich, um Motorschäden zu verhindern und die Lebensdauer der Motoren zu erhöhen.
EU-rechtliche Zulässigkeit von Thermofenstern bisher ungeklärt
Der BGH hat in seinen bisherigen Urteilen ausdrücklich offengelassen, ob es sich bei den Thermofenstern um eine nach der Verordnung der EU Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtung handelt. Der BGH verneinte hinsichtlich der Verwendung dieser Technik aber den Vorsatz einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung der Kunden durch die Autohersteller VW und Daimler, die solche Techniken verwenden (BGH, Urteil v. 13.7.2021, VI ZR 128/20 – VW -; BGH, Urteil v. 16.9.2021, VII ZR 190/20 – Daimler -).
Kraftfahrtbundesamt hat Thermofenster genehmigt
Das Kraftfahrtbundesamt in Deutschland hat den Einbau der Thermofenster im EG- Typgenehmigungsverfahren ausdrücklich abgesegnet und damit amtlich bescheinigt, dass die Technik der Thermofenster den technischen Anforderungen der EU entspricht.
Klage der DUH gegen Typgenehmigung
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hat gegen diese Typgenehmigung eine verwaltungsgerichtliche Klage eingereicht. Die DUH ist der Auffassung, das Kraftfahrtbundesamt hätte die Thermofenster nicht genehmigen dürfen, weil es sich um eine nach der EU-Verordnung Nr. 715/2007 verbotene Abschalteinrichtung handle.
VG zweifelt an Klagebefugnis der DUH
Das VG Schleswig hatte Zweifel an der Klagebefugnis der DUH. Die Umweltorganisation als solche sei durch die Typgenehmigung nicht in ihren Rechten verletzt. Die Typgenehmigung betreffe ein industrielles Produkt. Die DUH könne die Klagebefugnis daher auch nicht daraus herleiten, dass sie sich gegen eine umweltschädliche ortsfeste Anlage wende.
Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH
Das VG hat dem EuGH die Frage zur Beantwortung vorgelegt, ob das Übereinkommen von Aarhaus (EU-VO 2005/370/EG) in Verbindung mit dem in der Charta der Grundrechte der EU verbürgten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf erfordert, dass eine anerkannte Umweltvereinigung eine EG-Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen anfechten kann. Darüber hinaus möchte das VG wissen, ob die Rechtmäßigkeit einer solchen Typgenehmigung ausschließlich nach dem Kriterium der Notwendigkeit einer Abschaltvorrichtung zu beurteilen ist, oder ob weitere Umstände in die Beurteilung einfließen dürfen (VG Schleswig, Beschluss v. 20.11.2019, 3 A 113/18).
Bewahrung der Umwelt ist Allgemeininteresse
Der Generalanwalt am EuGH hat auf beide Fragen eine klare Antwort gefunden. Nach seinem Plädoyer verpflichtet das Übereinkommen von Aarhaus in Verbindung mit dem in der Charta der EU verbrieften Anspruch auf effektive Rechtsbehelfe die Mitgliedstaaten, einen wirksamen gerichtlichen Schutz der durch das Umweltrecht der Union garantierten Rechte zu gewährleisten. Dabei dürften die Gerichte die Klagebefugnis nicht von der Verletzung individueller Rechtspositionen abhängig machen. Das Unionsumweltrecht stelle in vielen Fällen auf das Interesse der Allgemeinheit an der Bewahrung der Umwelt ab. Die Aufgabe der anerkannten Umweltorganisationen sei es gerade, diese allgemeinen Interessen zu wahren und zu verteidigen.
Effektiver Rechtsschutz erfordert Klagebefugnis der Umweltverbände
Aus dem Grundsatz eines möglichst effektiven Schutzes der Umwelt im Rahmen des Unionsumweltrechts leitet der Generalanwalt unmittelbar das Recht von anerkannten Umweltvereinigungen ab, eine Verwaltungsentscheidung mit dem Inhalt der Erteilung einer EG-Typgenehmigung anzufechten. Nur eine solche Auslegung sei mit dem das EU-Umweltrecht beherrschenden Gemeinwohlgedanken vereinbart.
Nur technisch notwendige Abschalteinrichtungen zulässig
Auch die zweite vom VG gestellte Frage beantwortete der Generalanwalt eindeutig. Die EU-rechtliche Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung richte sich ausschließlich nach deren Notwendigkeit. Nur wenn die Abschalttechnik zwingend erforderlich sei, um beispielsweise Motorschäden zu verhindern, sei eine solche Technik EU-rechtlich gestattet. Andere Umstände dürften bei der Typgenehmigung nicht herangezogen werden. Die zugrundeliegende EU-VO 715/2007 verfolge einen technikneutralen Ansatz. Die Automobilhersteller seien verpflichtet, die Grenzwerte für den Schadstoffausstoß im Rahmen ihrer technischen Möglichkeiten einzuhalten.
(Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH v. 3.3.2022, C-873/19)
HintergrundDer Generalanwalt am EuGH hat in anderen Verfahren bereits deutlich gemacht, dass er den Einbau von Thermofenstern insgesamt als unionsrechtswidrig bewertet. Abschalteinrichtungen konterkarieren effektiven UmweltschutzIn diversen Verfahren betreffend u.a. die Automobilhersteller Volkswagen und Porsche hat der Generalanwalt bereits plädiert, dass der Einbau einer integrierten Software, mit der abhängig von der Außentemperatur und der Höhenlage die Schadstoffemissionen eines Fahrzeugs verändert werden, rechtswidrig im Sinne der EU-Richtlinie EU- 1999/44 und Nr. 715/2007 ist. Nach Auffassung des Generalsanwalts beeinträchtigt das Thermofenster die Wirksamkeit des unionsweiten Emissionskontrollsystems (EuGH, Rechtssachen C-128/20, C 134/20 u. C-145/20). Rechtsauslegung des EuGH bindet die nationalen GerichteDie Schlussanträge des Generalsanwalts sind für den EuGH zwar nicht bindend, in der Praxis folgt das Gericht jedoch häufig den in der Regel sachlich und rechtlich sorgfältig begründeten Anträgen. Die anschließende Entscheidung des EuGH bindet hinsichtlich der Rechtsauslegung des Unionsrechts das nationale Gericht, dass dann im konkreten Fall aber eigenständig entscheiden muss. Wann mit der Entscheidung zu rechnen ist, steht noch nicht fest. |
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