Entscheidungsstichwort (Thema)
Niederlassungsfreiheit. Öffentliche Gesundheit. Optiker. Regionale Regelung, die die Niederlassung neuer Optikergeschäfte von einer Erlaubnis abhängig macht. Demografische und geografische Beschränkungen. Rechtfertigung. Eignung, das angestrebte Ziel zu erreichen. Kohärenz. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
AEUV Art. 49, 56
Beteiligte
Ottica New Line di Accardi Vincenzo |
Comune di Campobello di Mazara |
Tenor
Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die die Erteilung von Niederlassungserlaubnissen für neue Optikergeschäfte begrenzt, indem sie vorsieht, dass
- sich in jedem Bezirk grundsätzlich nur ein einziges Optikergeschäft pro Einheit von 8 000 Einwohnern niederlassen darf und
- jedes neue Optikergeschäft grundsätzlich eine Mindestentfernung von 300 Metern gegenüber bereits bestehenden Optikergeschäften zu beachten hat,
sofern die zuständigen Behörden die ihnen von der betreffenden Regelung verliehenen Befugnisse unter Einhaltung transparenter und objektiver Kriterien in angemessener Weise gebrauchen, um die Ziele des Schutzes der öffentlichen Gesundheit auf der Gesamtheit des betroffenen Gebiets auf kohärente und systematische Weise zu erreichen, was das nationale Gericht zu prüfen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom Consiglio di Giustizia Amministrativa per la Regione Siciliana (Italien) mit Entscheidung vom 13. Juli 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Oktober 2011, in dem Verfahren
Ottica New Line di Accardi Vincenzo
gegen
Comune di Campobello di Mazara,
Beteiligte:
Fotottica Media Visione di Luppino Natale Fabrizio e C. s.n.c.,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richter J. Malenovský (Berichterstatter), U. Lõhmus und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und T. Müller als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch S. Martínez-Lage Sobredo als Bevollmächtigten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und J. Langer als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Rogalski und D. Recchia als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. Januar 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 AEUV und 56 AEUV.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Ottica New Line di Accardi Vincenzo (im Folgenden: Ottica New Line) und der Comune di Campobello di Mazara (Italien) wegen deren Entscheidung, Fotottica Media Vision di Luppino Natale Fabrizio e C. S.n.c. (im Folgenden: Fotottica) die Erlaubnis zu erteilen, innerhalb des Gebiets dieser Gemeinde die Tätigkeit als Optiker gewerblich auszuüben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. L 376, S. 36) lautet:
„Der Ausschluss des Gesundheitswesens vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie sollte Gesundheits- und pharmazeutische Dienstleistungen umfassen, die von Angehörigen eines Berufs im Gesundheitswesen gegenüber Patienten erbracht werden, um deren Gesundheitszustand zu beurteilen, zu erhalten oder wiederherzustellen, wenn diese Tätigkeiten in dem Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistungen erbracht werden, einem reglementierten Gesundheitsberuf vorbehalten sind.”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie enthält allgemeine Bestimmungen, die bei gleichzeitiger Gewährleistung einer hohen Qualität der Dienstleistungen die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit durch Dienstleistungserbringer sowie den freien Dienstleistungsverkehr erleichtern sollen.”
Rz. 5
Art. 2 Abs. 2 Buchst. f der genannten Richtlinie sieht vor:
„Diese Richtlinie findet auf folgende Tätigkeiten keine Anwendung:
…
f) Gesundheitsdienstleistungen, unabhängig davon, ob sie durch Einrichtungen der Gesundheitsversorgung erbracht werden, und unabhängig davon, wie sie auf nationaler Ebene organisiert und finanziert sind, und ob es sich um öffentliche oder private Dienstleistungen handelt.”
Rz. 6
Nach Art. 15 Abs. 2 der genannten Richtlinie, der zu deren Kapitel III („Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer”) gehört, prüfen die Mitgliedstaaten, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von der Einhaltung mengenmäßiger oder territorialer Beschränkungen, insbesondere in Form von Beschränkungen aufgrund der Bevölkerungszahl oder bestimmter Mindestentfernungen zwischen Dienstleistungserbringern, abhängig macht. Nach Abs. 3 dieser Bestimmung prüfen die Mitgliedstaaten, ob solche Anforderungen die...