Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Erklärungen der Rechte in den Anhängen I und II. Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme. Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf. Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte. Auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls im Vollstreckungsmitgliedstaat festgenommene Person
Normenkette
Richtlinie 2012/13/EU Art. 4-7; Rahmenbeschluss 2002/584/JI
Beteiligte
Spetsializirana prokuratura |
Tenor
1. Art. 4, insbesondere dessen Abs. 3, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass die darin genannten Rechte nicht für Personen gelten, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden.
2. Die Prüfung der dritten und der vierten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung im Hinblick auf die Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beeinträchtigen könnte.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 20. August 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 3. September 2019, in dem Strafverfahren gegen
IR,
Beteiligte:
Spetsializirana prokuratura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič, E. Juhász, C. Lycourgos (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und E. Lankenau als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, ursprünglich vertreten durch S. Grünheid, Y. G. Marinova und R. Troosters, dann durch S. Grünheid und Y. G. Marinova als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. September 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 4, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1), von Art. 1 Abs. 3 und Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) und des diesem Rahmenbeschluss im Anhang beigefügten Formblatts sowie die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen IR wegen Straftaten im Zusammenhang mit Zigarettenhandel.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rahmenbeschluss 2002/584
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 5, 6 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:
„(5) … Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. …
(6) Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als, Eckstein’ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.
…
(12) Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EUV] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta …, insbesondere in deren [Titel] VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer P...