Entscheidungsstichwort (Thema)
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Vorlage zur Vorabentscheidung. Verfahren über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen. Verfahrenseinleitendes Schriftstück im Ursprungsstaat. Ordnungsgemäße Zustellung eines Zahlungsbefehls, gefolgt von der nicht ordnungsgemäßen Zustellung der Klageschrift einer Forderungsklage nach schweizerischem Recht
Normenkette
Lugano-II Art. 34 Nr. 2
Beteiligte
PT (Injonction de payer de droit suisse) |
Tenor
Art. 34 Nr. 2 des am 30. Oktober 2007 unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, dessen Abschluss im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 genehmigt wurde,
ist dahin auszulegen, dass
es sich bei der Klageschrift einer Forderungsklage nach schweizerischem Recht, die nach vorangegangenem Erlass eines schweizerischen Zahlungsbefehls ohne den Antrag erhoben wird, den gegen den Zahlungsbefehl eingelegten Rechtsvorschlag zu beseitigen, um das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne dieser Bestimmung handelt.
Tatbestand
In der Rechtssache C-343/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 20. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Mai 2022, in dem Verfahren
PT
gegen
VB
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und U. Kühne als Bevollmächtigte,
- – der schweizerischen Regierung, vertreten durch M. Kähr und L. Lanzrein als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Ernst und S. Noë als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 34 Nr. 2 des am 30. Oktober 2007 unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, dessen Abschluss im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 (ABl. 2009, L 147, S. 1) genehmigt wurde (im Folgenden: Lugano-II-Übereinkommen).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen PT und VB über die Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung eines schweizerischen Gerichts in Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Haager Übereinkommen vom 15. November1965
Rz. 3
Art. 5 des Haager Übereinkommens vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen lautet:
„Die Zustellung des Schriftstücks wird von der Zentralen Behörde des ersuchten Staates bewirkt oder veranlasst, und zwar
a) entweder in einer der Formen, die das Recht des ersuchten Staates für die Zustellung der in seinem Hoheitsgebiet ausgestellten Schriftstücke an dort befindliche Personen vorschreibt,
b) oder in einer besonderen von der ersuchenden Stelle gewünschten Form, es sei denn, dass diese Form mit dem Recht des ersuchten Staates unvereinbar ist.
Von dem Fall des Absatzes 1 Buchstabe b abgesehen, darf die Zustellung stets durch einfache Übergabe des Schriftstücks an den Empfänger bewirkt werden, wenn er zur Annahme bereit ist.
Ist das Schriftstück nach Absatz 1 zuzustellen, so kann die Zentrale Behörde verlangen, dass das Schriftstück in der Amtssprache oder einer der Amtssprachen des ersuchten Staates abgefasst oder in diese übersetzt ist.
Der Teil des Antrags, der entsprechend dem diesem Übereinkommen als Anlage beigefügten Muster den wesentlichen Inhalt des Schriftstücks wiedergibt, ist dem Empfänger auszuhändigen.“
Lugano
-
II-Übereinkommen
Rz. 4
Das Lugano-II-Übereinkommen wurde von der Europäischen Gemeinschaft, dem Königreich Dänemark, der Republik Island, dem Königreich Norwegen und der Schweizerischen Eidgenossenschaft unterzeichnet.
Rz. 5
Art. 34 Nr. 2 des Lugano-II-Übereinkommens sieht vor:
„Eine Entscheidung wird nicht anerkannt, wenn
…
2. dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte …“
Rz. 6
Art. 38 Abs. 1 des Lugano-II-Übereinkommens lautet:
„Die in einem durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat ergangenen Entscheidungen, die in diesem Staat vollstreckbar sind, werden in einem anderen durch di...