Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit. Mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Nationale Regelung, wonach zwei oder mehrere Renten wegen vollständiger Berufsunfähigkeit, die im Rahmen desselben gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit erworben wurden, miteinander unvereinbar sind. Vereinbarkeit solcher Renten, wenn sie im Rahmen verschiedener gesetzlicher Systeme der sozialen Sicherheit erworben wurden. Feststellung einer mittelbaren Diskriminierung anhand statistischer Daten. Ermittlung der betreffenden Vergleichsgruppen. Rechtfertigung
Normenkette
Richtlinie 79/7/EWG Art. 4 Abs. 1
Beteiligte
Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS) |
Tenor
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die es den der sozialen Sicherheit angeschlossenen Beschäftigten verwehrt, zwei Renten wegen vollständiger Berufsunfähigkeit desselben Systems der sozialen Sicherheit kumulativ zu beziehen, während eine solche Kumulierung bei Renten verschiedener Systeme der sozialen Sicherheit zulässig ist, entgegensteht, sofern diese Regelung weibliche Beschäftigte in besonderer Weise gegenüber männlichen Beschäftigten benachteiligt, insbesondere indem sie einem signifikant höheren Anteil männlicher Beschäftigter – ermittelt auf der Grundlage aller der fraglichen Regelung unterliegenden männlichen Beschäftigten – als dem entsprechenden Anteil weiblicher Beschäftigter die Inanspruchnahme dieser Kumulierung gestattet, und sofern die Regelung nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Social nº 26 de Barcelona (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 26, Barcelona, Spanien) mit Entscheidung vom 13. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 19. November 2020, in dem Verfahren
KM
gegen
Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter J. Passer, F. Biltgen und N. Wahl sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von KM, vertreten durch I. Armenteros Rodríguez, Abogado,
- des Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS), vertreten durch P. García Perea und A. R. Trillo García, Letrados,
- der spanischen Regierung, vertreten durch J. Rodríguez de la Rúa Puig und M. J. Ruiz Sánchez als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Galindo Martín und A. Szmytkowska als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 24. Februar 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen KM und dem Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS) (Nationales Institut für soziale Sicherheit, Spanien) wegen dessen Weigerung, die Vereinbarkeit von zwei Renten wegen vollständiger Berufsunfähigkeit, die KM im Rahmen desselben gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit auf der Grundlage verschiedener Beitragszeiten und Verletzungen zuerkannt wurden, anzuerkennen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 der Richtlinie 79/7 lautet:
„Diese Richtlinie hat zum Ziel, dass auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit und der sonstigen Bestandteile der sozialen Sicherung im Sinne von Artikel 3 der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit – im Folgenden ‚Grundsatz der Gleichbehandlung’ genannt – schrittweise verwirklicht wird.”
Rz. 4
Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a findet die Richtlinie 79/7 u. a. auf die gesetzlichen Systeme Anwendung, die Schutz gegen das Risiko „Invalidität” bieten.
Rz. 5
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 sieht vor:
„Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im Besonderen betreffend:
- den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen,
- die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge,
- die Berechnung der Leistungen, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten und für unterhaltsberec...