Leitsatz (amtlich)
1. Macht ein Antragsteller im Nachprüfungsverfahren die Nichtigkeit des Vertrages wegen Nichteinhaltung der Frist des § 13 S. 3 VgV geltend, so kommt es für den Fristbeginn grundsätzlich auf den Zugang der Vorinformation bei diesem Bieter an.
2. Der verfrüht geschlossene Vertrag ist jedenfalls dann nichtig, wenn nach dem vorgetragenen Sachverhalt die Möglichkeit in Betracht kommt, dass er unter Verletzung der Bestimmungen über die Wertung der Angebote zu Stande gekommen ist.
3. Die Nichtigkeit des Vertrages ist unbeschadet des Umstands, dass es sich dabei um eine bürgerlich-rechtliche Frage handelt, im Nachprüfungsverfahren festzustellen.
4. Der nach § 13 S. 1 VgV informierte Bieter muss auf Grund der Mitteilung zumindest ansatzweise nachvollziehen können, welche konkreten Erwägungen für die Vergabestelle bei der Nichtberücksichtigung seines Angebots ausschlaggebend waren.
5. Wegen der besonders nahe liegenden Gefahr des endgültigen Verlustes des vergaberechtlichen Primärrechtsschutzes durch Vertragsschluss bestehen bei Auseinandersetzungen um die Vorabinformation nach § 13 VgV von Amts wegen gesteigerte Prüfungspflichten, bevor nach § 110 Abs. 2 S. 1 GWB von der Zustellung des Nachprüfungsantrags abgesehen wird.
6. Hat der Antragsteller nur einen bestimmten Verstoß gegen Vergabebestimmungen geltend gemacht, hinsichtlich dessen er seiner vorprozessualen Rügeobliegenheit nicht genügt hat, und ist dieser Verstoß wegen Voranschreitens des Vergabeverfahrens gegenstandslos geworden, muss die Vergabekammer anderweitigen sich aufdrängenden und noch relevanten Verstößen gegen bieterschützende Bestimmungen gleichwohl nachgehen.
Normenkette
VgV § 13; GWB § 104 Abs. 2, § 107 Abs. 3 S. 1, § 110 Abs. 1 S. 1; GWB § Abs. 2 S. 1
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde wird festgestellt, dass der am 19.12.2001 von der Vergabestelle mit der Beigeladenen geschlossene Vertrag nichtig ist.
Die Sache wird zur weiteren Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an die 2. Beschlussabteilung der Vergabekammer des Landes Berlin zurückverwiesen.
Gründe
A. Das vorliegende Nachprüfungsverfahren bezieht sich auf die Ausschreibung „Unterstützende Dienste für die öffentliche Verwaltung 2001/S 202–138348” der vormaligen Senatsverwaltung des Landes Berlin für … . Sie hatte die Vergabe der Tätigkeit eines Geschäftsbesorgers als Treuhänder des Landes Berlin zur Planung und Realisierung beschäftigungswirksamer Maßnahmen sowie Bildung- und Qualifzierungsmaßnahmen (Kategorie 11 des Anhangs IA des zweiten Abschnitts der VOL/A), und zwar die treuhänderische Verwaltung und Vergabe von Mitteln des Landes Berlin in der Rechtsform eines beliehenen Unternehmers für im Einzelnen aufgeführte Aufgaben zum Gegenstand. Das geschätzte Auftragsvolumen lag oberhalb des für gemeinschaftsweite Ausschreibungen maßgeblichen Schwellenwerts (§ 2 Nr. 3 VgV). Angebote waren bis zum 3.12.2001 12.00 Uhr einzureichen; die Bindefrist endete am 14.1.2002; der Zuschlag sollte auf das wirtschaftlichste Angebot erteilt werden.
Die Antragstellerin beteiligte sich an dem Vergabeverfahren mit einem fristgerecht eingereichten Angebot. Mit Schreiben vom 5.12.2001, das am folgenden Tage zuging, teilte die Vergabestelle der Antragstellerin mit, sie beabsichtige den Auftrag der ARGE S.B. (GbR) – die der Senat zum Beschwerdeverfahren beigeladen hat (im Folgenden: Beigeladene) – zu erteilen; ihr, der Antragstellerin Angebot habe nicht berücksichtigt werden können, weil es nicht das wirtschaftlichste gewesen sei. Darauf erwiderte die Antragstellerin mit einem Schreiben vom 10.12.2001, das im Wesentlichen folgenden Wortlaut hat:
„… Hiermit fordern wir Sie i.S.v. § 27a VOL/A auf, uns die Gründe für die Ablehnung unseres Angebotes sowie die Merkmale und Vorteile des erfolgreichen Angebotes mitzuteilen.”
Die Vergabestelle schloss in der Folge mit der Beigeladenen einen Vertrag über die ausgeschriebenen Dienstleistungen, wobei die Beigeladene behauptet, dies sei nicht am 19.12.2001 geschehen, sondern an diesem Tage habe nur der Auftraggeber den Vertrag unterschrieben, während die Beigeladene ihn erst am übernächsten Tag gegengezeichnet habe.
Am 18.12.2001 hatte die Antragstellerin bei der Vergabekammer des Landes Berlin einen Nachprüfungsantrag eingereicht, mit dem sie begehrte, die Entscheidung der Vergabestelle für die Erteilung des Auftrages an die Beigeladene aufzuheben. In der Begründung hatte die Antragstellerin u.a. den Inhalt des Vorabinformationsschreibens der Vergabestelle vom 5.12.2001 und den ihres Antwortschreibens vom 10.12.2001 vorgetragen. Ein ergänzendes Schreiben der Vergabestelle vom 13.12.2001, in welchem die Vergabestelle der Antragstellerin ergänzend mitgeteilt hatte, ihr Angebot habe 3 % über dem niedrigsten Angebot der Beigeladenen gelegen, reichte der Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin am 21.12.2001 nach. Die Vergabekammer stellte sich gegenüber der Antragstellerin in einem Formschreiben vom 19.12.2001 auf den Standpunkt, der Nachprüfung...