Leitsatz (amtlich)
1. Ist zwischen den Parteien streitig, ob die Klägerin bei dem streitgegenständlichen Unfall überhaupt verletzt wurde, gilt für die Feststellung der behaupteten unfallbedingten Verletzungen (HWS-Schleudertrauma, LWS-Syndrom mit posttraumatischer Wurzelreizung C 6/7, Quetschung des Nervs des rechten Armes) das Beweismaß des § 286 ZPO.
2. Ein Anscheinsbeweis für das Vorliegen einer unfallbedingten Verletzung der HWS kann nach ständiger Rechtsprechung des Senats nur bejagt werden, wenn eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von über 15 km/h bewiesen ist.
3. Das erstinstanzliche Gericht handelt verfahrensfehlerhaft, wenn es - nach Feststellung einer möglichen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung zwischen 7 km/h und 13 km/h mit Querbeschleunigung aufgrund eines technischen Sachverständigengutachtens - wegen Annahme einer sog. Harmlosigkeitsgrenze die behaupteten Verletzungen von vornherein sicher ausschließt und kein medizinisches Sachverständigengutachten einholt.
Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 12.06.2002; Aktenzeichen 17 O 234/01) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 12.6.2002 verkündete Urteil der Zivilkammer 17 des LG Berlin - 17 O 234/01 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages zzgl. 10 % abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Gründe
I. Die am 22.7.2002 eingelegte und am 28.8.2002 begründete Berufung der Klägerin richtet sich gegen das am 28.6.2002 zugestellte Urteil des LG Berlin vom 12.6.2002, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird.
Die Klägerin verfolgt ihr erstinstanzliches Zahlungsbegehren weiter und beanstandet die Beweiswürdigung des LG. Sie macht unter näherer Darlegung im Einzelnen geltend, eine "Harmlosigkeitsgrenze" für eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung, bei deren Unterschreiten eine Verletzung der Halswirbelsäule ausgeschlossen sei, könne es nicht geben. Zudem habe das LG übersehen, dass bei dem streitgegenständlichen Unfall, wie von der Klägerin bereits mit Schriftsatz vom 21.3.2002 vorgetragen, eine Querbeschleunigung stattgefunden habe. Demgegenüber sei die vom LG zitierte Rechtsprechung zur sog. Harmlosigkeitsgrenze nur auf solche Fälle anwendbar, bei denen ein vollflächiger Aufprall ohne Querbeschleunigung stattgefunden habe.
Die Klägerin behauptet, andere Ursachen für die von ihr geklagten Verletzungen außer dem Unfall könnten ausgeschlossen werden. Eine neurotische Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens habe nicht stattgefunden.
Die Klägerin beantragt, unter Abänderung des Urteils des LG Berlin vom 12.6.2002 - 17 O 234/01 - die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an die Klägerin 31.739,79 Euro nebst 10 % Zinsen seit dem 17.7.2002 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil und behaupten, bei den vom Sachverständigen Prof. Dr. ... festgestellten Auftreffwinkeln sei das klägerische Fahrzeug ausschließlich gerade nach vorn beschleunigt worden. Etwa in seitliche Richtungen wirkende geringfügige Kräfte seien durch die Masse des Fahrzeugs und die Reifenhaftung auf der Straße "abgefangen" worden.
Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Der Senat hat gemäß Beschluss vom 10.10.2002 vor der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. med. C. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 20.11.2002 (Bd. II Bl. 4-41) verwiesen. Darüber hinaus hat der Senat vor der mündlichen Verhandlung ergänzende Stellungnahmen des Sachverständigen Prof. Dr. med. C. sowie des Sachverständigen für Unfallrekonstruktionen Prof. Dr.-Ing. ... eingeholt. Insoweit wird auf die Stellungnahmen vom 9.1.2004 (Bd. II Bl. 58-67) sowie vom 12.1.2004 (Bd. II Bl. 76-87) verwiesen.
II. Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Allerdings rügt die Klägerin zu Recht, dass das LG nicht allein auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen für Unfallrekonstruktionen Prof. Dr. ... vom 20.2.2002, wonach die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des klägerischen Fahrzeugs zwischen 7 und 13 km/h gelegen hat, die Klage hätte abweisen dürfen, ohne zuvor ergänzende Gutachten, insb. eines Mediziners, eingeholt zu haben.
a) Der BGH hat in seinem - allerdings erst nach Erlass des angefochtenen Urteils - ergangenen Urteil vom 28.1.2003 (BGH, Urt. v. 28.1.2003 - VI ZR 139/02, MDR 2003, 566 = BGHReport 2003, 487) die Annahme einer sog. "Harmlosigkeitsgrenze" d.h. einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, bei deren Vorliegen eine Verletzung der HWS generell auszuschließen sei, abgelehnt (BGH v. 28.1.2003 - VI ZR 139/02, MDR 2003, 566 = BGHReport 2003, 487 = NJW ...