Entscheidungsstichwort (Thema)
Zu den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO
Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 14.04.2000; Aktenzeichen 17 O 448/99) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 14.4.2000 verkündete Urteil der Zivilkammer 17 des LG Berlin - 17 O 448/99 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
1. Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg, weil das angefochtene Urteil richtig ist und auch das Vorbringen in der Berufung keine andere Entscheidung rechtfertigt. Das Gericht folgt den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung (§ 543 Abs. 1 ZPO). Im Hinblick auf das Vorbringen in der Berufung weist es ergänzend auf Folgendes hin:
a) Die Angriffe der Klägerin gegen die Beweiswürdigung des LG greifen nicht durch.
aa) § 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Dies bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze, an Erfahrungssätze sowie ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf - so darf er bspw. einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen oder trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung feststellen (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 22. Aufl., § 286 Rz. 13).
Das Gericht ist andererseits aber auch verpflichtet, den ihm gewährten Freiraum auszuschöpfen und alle Erkenntnisquellen der Beweiswürdigung (Parteivortrag, Prozessverhalten, Ergebnis der Beweisaufnahme, Erfahrungssätze sowie beigezogene Akten und Unterlagen) im Rahmen einer Gesamtschau zu würdigen; die unvollständige Beweiswürdigung verstößt gegen § 286 ZPO (BGH v. 22.7.1998 - VIII ZR 220/97, MDR 1998, 1274 = NJW 1998, 3197 [3198]).
Ferner sind die leitenden Gründe und wesentliche Gesichtspunkte für die Überzeugungsbildung nachvollziehbar und widerspruchsfrei im Urteil darzustellen (BGH v. 22.1.1991 - VI ZR 97/90, MDR 1991, 993 = NJW 1991, 1894).
bb) Gegen diese Grundsätze hat das LG im angefochtenen Urteil nicht verstoßen. Das Gericht schließt sich der Beweiswürdigung des LG an. Insbesondere können Zweifel an der Richtigkeit der Aussage des Zeugen M. nicht, wie die Klägerin meint, damit begründet werden, der Zeuge habe sich in seiner Eigenschaft als Motorradfahrer mit dem Beklagten zu 1), der bei dem Unfall ebenfalls ein Motorrad geführt hatte, unbewusst solidarisiert. Ein Erfahrungssatz des Inhalts, dass Personen, die überwiegend in einer bestimmten Art und Weise am Straßenverkehr teilnehmen (als Pkw-Fahrer, als Lkw-Fahrer, als Kradfahrer, als Radfahrer oder als Fußgänger) sich im Fall eines Unfalls im Zweifel mit demjenigen Unfallbeteiligten solidarisieren, der in derselben Art und Weise wie sie am Straßenverkehr teilnimmt, ist dem Gericht nicht bekannt. Auch der Umstand, dass der Zeuge M. bei seiner Vernehmung durch das LG bekundet hat, er selbst habe als Motorradfahrer bereits zweimal ähnliche Unfälle erlebt und sei dabei verletzt worden, ist nicht geeignet, Zweifel an der Richtigkeit seiner Aussage zu begründen.
b) Der Klägerin kann auch nicht darin gefolgt werden, wenn sie meint, es liege eine Vorfahrtsverletzung seitens des Beklagten zu 1) vor, so dass gegen diesen der Beweis des ersten Anscheins spreche, den Unfall durch eine Vorfahrtsverletzung verschuldet zu haben.
aa) Der Wartepflichtige ist nach § 8 Abs. 2 StVO verpflichtet, durch sein Verhalten, insbes. durch mäßige Geschwindigkeit, erkennen zu lassen, dass er warten wird. Er darf nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den, der die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert. Diese Pflichten hat der Beklagte zu 1) unstr. erfüllt. Er hat im Einmündungsbereich der M.-straße in die U.-straße gewartet und die Klägerin mit ihrem Pkw Opel Astra den Einmündungsbereich ungehindert passieren lassen. Nachdem die Beklagte den Einmündungsbereich der M.-straße verlassen hatte und ihr Fahrzeug, wie sie im Bußgeldverfahren mit Schriftsatz vom 31.3.1999 hat vortragen lassen, sich etwa 20 m hinter der Einmündung befand, war das Vorfahrtsrecht der Klägerin gleichsam "verbraucht". Insbesondere erstreckt sich das Vorfahrtsrecht aus § 8 StVO nicht auf Wendemanöver, die in einem Bereich 26 m hinter der Kreuzung bzw. dem Einmündungsbereich der wartepflichtigen Straße durchgeführt werden. Für diese gilt vielmehr die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO.
bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Klägerin zitierten Rspr. zur Frage des Anscheinsbeweises zwischen einem die Vorfahrtstraße befahrenden Fahrzeug und einem Fahrzeug, das aus einer untergeordneten Straße eingebogen ist, wenn sich der Unfall außerhalb des Einmündungsraumes ereignet. Diese Rspr. besagt, dass dann, wenn das wartepflichtige Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt noch nicht die auf der Vorfahrtstraße allgemein eingehaltene Geschwindigkeit erreicht hat, der Beweis des ersten Anscheins dafür sprechen kann, dass eine unfallursächliche V...