Entscheidungsstichwort (Thema)
Angriffsrichtung der Verfahrensrüge gegen ein Verwerfungsurteil
Leitsatz (amtlich)
1. Aus der sich aus § 79 III OWiG i.V.m. § 344 II 2 StPO ergebenden Dispositionsbefugnis des Betroffenen ergibt sich, dass er grundsätzlich frei entscheiden kann, welchen von mehreren Verfahrensverstößen er mit der Rechtsbeschwerde beanstanden möchte.
2. Demgemäß ist auch die Rechtsbeschwerde gegen ein bußgeldrechtliches Verwerfungsurteil weder auf die Rüge der Verletzung des § 74 II OWiG beschränkt noch in sonstiger Weise von der (gleichzeitigen) Erhebung einer entsprechenden Verfahrensrüge abhängig.
3. Insbesondere ist der Betroffene mit Blick auf Art. 101 I 2 GG nicht daran gehindert, auch ein Verwerfungsurteil nach § 74 II OWiG allein mit dem (absoluten) Rechtsbeschwerdegrund nach § 338 Nr. 3 StPO i.V.m. § 79 III OWiG anzugreifen, weil an der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, gegen den ein Ablehnungsgesuch zu Unrecht verworfen wurde.
Tatbestand
Zum Sachverhalt:
Das AG hat den Einspruch des Betr. gegen einen Bußgeldbescheid, mit dem gegen ihn neben einer Geldbuße von 500 € ein Fahrverbot festgesetzt wurde, mit Urteil vom 09.07.2012 gemäß § 74 II OWiG verworfen. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sein Rechtsmittel erwies sich auf die Verfahrensrüge als begründet. Das OLG hat das angegriffene Urteil aufgehoben und an eine andere Abteilung des AG zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte (§ 79 I 1 Nrn. 1 und 2 OWiG) und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat mit dem geltend gemachten absoluten Rechtsbeschwerdegrund nach § 79 III 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 3 StPO - zumindest vorläufig - Erfolg. Das AG hat einen durch die Verteidigung gestellten Ablehnungsantrag zu Unrecht als unzulässig nach § 46 I OWiG i.V.m. § 26a StPO abgelehnt.
1. Ob eine Rüge der Verletzung von § 74 II OWiG erfolgreich wäre oder eine solche - wie die GenStA meint - nicht durchgreifen würde, bedarf keiner Entscheidung. Denn der Betr. hat gerade nicht gerügt, dass das AG sein Ausbleiben nicht als unentschuldigt hätte ansehen dürfen. Aus dem Rechtsbeschwerdevorbringen ergibt sich als Angriffsrichtung der Verfahrensrüge vielmehr eindeutig, dass der Betr. nur die aus seiner Sicht fehlerhafte Behandlung des Befangenheitsantrages beanstandet. Der Betr. war weder gehalten, die Rüge der Verletzung des § 74 II OWiG zu erheben, noch war er auf die Erhebung dieser Rüge beschränkt. Zwar mögen manche Formulierungen in Rspr. und Lit. darauf hindeuten, dass ein Verwerfungsurteil nur mit der Verfahrensrüge dahingehend beanstandet werden kann, dass die Voraussetzungen für eine Verwerfung ohne sachliche Überprüfung nicht vorgelegen hätten (vgl. z.B. KK/Senge OWiG 3. Aufl. § 74 Rn. 55; Meyer-Goßner StPO 56. Aufl. § 329 Rn. 48).
a) Die bloße Möglichkeit der Erhebung einer Verfahrensrüge schließt allerdings regelmäßig die Erhebung anderer Verfahrensrügen nicht aus. Es entspricht vielmehr der sich auch aus § 79 III OWiG i.V.m. § 344 II 2 StPO ergebenden Dispositionsbefugnis des Betr., dass er grundsätzlich frei entscheiden kann, welchen von mehreren Verfahrensverstößen er geltend machen möchte.
b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der systematischen Stellung des § 74 II OWiG sowie dem Umstand, dass es sich bei dem Verwerfungsurteil nicht um ein Sach- sondern um ein Prozessurteil handelt, welches der Tatrichter bei Vorliegen der Voraussetzungen zwingend zu erlassen hat (OLG Bamberg, Beschluss vom 24.10.2012 - 3 Ss OWi 1425/12 [bei [...]]). Auch ein solches Prozessurteil ist ebenso mit der Rechtsbeschwerde anfechtbar wie ein Sachurteil, wenn die Voraussetzungen des § 79 I 1 Nrn. 1 oder 2 oder des § 79 I 2 OWiG vorliegen (Rebmann/Roth/Herrmann OWiG § 74 Rn. 20). Die Frage der Konsequenzen aus dem Umstand der "unzulässigen" Mitwirkung eines Richters an einem Urteil kann auch nicht davon abhängig sein, ob es sich um ein Prozess- oder ein Sachurteil handelt. Dass ein Verstoß gegen § 74 II OWiG mit einer Verfahrensrüge geltend zu machen ist (Göhler/Seitz OWiG 16. Aufl. § 74 Rn. 48b), kann nicht dazu führen, dass der Betr. auf die Erhebung dieser Rüge beschränkt ist und Einwände gegen die "Unparteilichkeit" des Tatrichters im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht (gesondert) geltend machen kann. Zum einen gehört die "Unparteilichkeit" des Tatrichters nicht zu den Erlassvoraussetzungen eines Verwerfungsurteils nach § 74 OWiG. Auch der Wortlaut des § 338 Nr. 3 StPO unterscheidet nicht zwischen Prozess- und Sachurteil. Darüber hinaus entspricht es gefestigter Rspr., dass die Regelungen über Richterablehnungen und § 338 Nr. 3 StPO die spezielleren Rechtsbehelfe darstellen und insbesondere dem Schutz des Art. 101 I 2 GG dienen. Dies führt dazu, dass die Frage der Unparteilichkeit der befassten Richter mit einer anderen Rüge nicht beanstandet werden kann, die Geltendmachung anderer Verfahrensverletzungen hierdurch allerdings auch nicht eingeschränkt wird (Graf/Wiedner StPO 2. Aufl. § 338 R...