Entscheidungsstichwort (Thema)

Entschädigung bei überlangen Gerichtsverfahren: Übergangsregelung - Erfordernis der Verzögerungsrüge bei bereits anhängigen Verfahren

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Entschädigungsanspruch wegen der überlangen Dauer eines anhängigen gerichtlichen Verfahrens kann für die Zeiträume vor dem In-Kraft-Treten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren am 3.12.2011 nur dann geltend gemacht werden, wenn eine Verzögerungsrüge unverzüglich nach dem In-Kraft-Treten erhoben wurde. Die Erhebung der Verzögerungsrüge ist auch dann nicht entbehrlich, wenn die Verfahrensdauer zuvor schon (mehrfach) beanstandet wurde.

 

Normenkette

ÜberlVfRSchG Art. 23; GVG §§ 198 ff.

 

Verfahrensgang

LG Bremen (Aktenzeichen 6 O 1413/12)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des jeweils zu vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 4.000 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerin macht Ansprüche aus dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geltend.

Die Klägerin erhob mit Klageschrift vom 9.7.2002 in dem Verfahren 6 O 1413/02 eine Zahlungsklage gegen die A.-AG. Im Laufe des Verfahrens wurde mehrfach von der Klägerin die eingetretene Verzögerung des Zivilverfahrens beanstandet. Sie wandte sich zudem an den Präsidenten des LG und erhob am 2.7.2007 eine Untätigkeitsbeschwerde. Das Verfahren wurde nach einer Verfahrensdauer von über neuneinhalb Jahren durch Abschluss eines Prozessvergleichs im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22.3.2012 beendet. In der mündlichen Verhandlung erhob die Klägerin eine Verzögerungsrüge.

Die Klägerin trägt vor, das Verfahren sei nicht in der gebotenen Weise gefördert worden. Es habe ein faktischer Verfahrensstillstand vom 15.12.2004 bis zum 8.5.2008 vorgelegen. Dies rechtfertige die mit der Klage geltend gemachte Schadensersatzforderung i.H.v. 4.000 EUR. Die Klägerin ist der Auffassung, eine erneute Rüge nach dem In-Kraft-Treten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜberlVfRSchG) sei nicht erforderlich gewesen. Eine andere Auffassung werde den Entscheidungen zu Art. 6, 13 und 46 EMRK des EGMR sowie des BVerfG nicht gerecht. Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sei konventionskonform auszulegen. Die Bundesrepublik Deutschland habe einen Rechtsbehelf einführen müssen, der eine wirksame Wiedergutmachung für Konventionsverletzungen sicherstelle. Die Übergangsregelung des Art. 23 ÜberlVfRSchG solle einen Rechtsschutz auch für Sachverhalte vor In-Kraft-Treten des Gesetzes erreichen. Die von der Beklagten gewünschte Auslegung des Art. 23 ÜberlVfRSchG würde dazu führen, dass die Klägerin in konventionswidriger Weise rechtlos gestellt werde. Die Klägerin sei ihrer Rügeobliegenheit bereits in der Vergangenheit nachgekommen. Eine zusätzliche Rügeobliegenheit ergebe sich aus Art. 23 Abs. 1 ÜberlVfRSchG nicht. Diese Vorschrift beziehe sich nur auf anhängige Verfahren, die bei In-Kraft-Treten des Gesetzes verzögert seien. Es gehe dem Wortlaut nach um aktuell verzögerte Verfahren, also nicht um Verfahren, bei denen in der Vergangenheit irgendwann einmal eine Verzögerung eingetreten sei. Das vorliegende Verfahren sei zwar insgesamt verzögert gewesen, dies allerdings nur aufgrund einer zeitlich abgeschlossenen Verfahrensverzögerung in der Vergangenheit. Art. 23 ÜberlVfRSchG treffe nach seinem Wortlaut keine Regelung für den Fall, dass ein Verfahren vor In-Kraft-Treten des Gesetzes am 3.12.2011 verzögert gewesen sei, die Verzögerung am 3.12.2011 durch die weitere Prozessführung aber bereits wieder beendet sei, somit also die Verzögerung zwar in zeitlicher Hinsicht fortbestehe, mittlerweile tatsächlich aber nicht mehr stattfinde. Die Prozessvertreterin der Klägerin habe selbstverständlich die Änderung des § 198 GVG zur Kenntnis genommen. Hieraus ergebe sich für eine bereits abgeschlossene Verzögerung in der Vergangenheit aber gerade nichts. Deswegen habe die Klägerin Anfang 2012 keine Veranlassung gehabt, unverzüglich eine bereits stattgefundene aber abgeschlossene Verzögerung zu rügen. Ohnehin sei die stattgefundene Verzögerung bereits mehrfach in der Vergangenheit gerügt worden, so dass die Klägerin auch insoweit keinen weiteren Handlungsbedarf habe sehen müssen.

Die Klägerin beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 4.000 EUR nebst gesetzlicher Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

2. hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine angemessene Entschädigung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts nach § 287 ZPO gestellt wird, zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, es sei grundsätzlich eine unangemessene Verfahrensda...

Dieser Inhalt ist unter anderem im VerwalterPraxis Gold enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge