Entscheidungsstichwort (Thema)

Kommt es beim Abbiegen eines Kfz bei Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten des § 9 Abs. 1 S. 4 StVO und Verletzung des Vorrangs der Straßenbahn gem. § 9 Abs. 3 S. 1 StVO zu einer Kollision des ausschwenkenden Anhängers mit einer auf der Nebenspur fahrenden Straßenbahn, haftet der Abbiegende alleine.

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Abbieger muss den Abbiegevorgang so lange zurückstellen, bis er sicher sein kann, dass er keinen anderen Verkehrsteilnehmer auf dem neben ihm befindlichen Fahrstreifen - hier durch Ausschwenken des Anhängers bei der Bogenfahrt - gefährdet (§ 9 Abs. 1 S. 4 StVO).

2. Sorgfaltswidrig handelt der Linksabbieger, der unmittelbar vor dem Abbiegen sich nicht durch (zweite) Rückschau versichert, ob sich ein anderer Verkehrsteilnehmer nähert und es dadurch zu einer Gefährdung aufgrund des Ausschwenkens des Anhängers bei der Bogenfahrt kommt.

3. Ein Straßenbahnführer darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass andere Verkehrsteilnehmer §§ 2 Abs. 3, 9 Abs. 3 S. 1 StVO beachten und die Schienen nicht besetzen; insoweit besteht keine Wartepflicht gemäß § 11 Abs. 3 StVO.

4. Ein Straßenbahnführer braucht nicht damit zu rechnen, dass ein vor ihm fahrendes Fahrzeug bei Annäherung der Straßenbahn in den Gleisbereich einbiegt - auch dann nicht, wenn der andere Fahrer seine Abbiegeabsicht bereits angekündigt hat (Anschluss an OLG Hamm, Urt. v. 13.04.2018 - 7 U 36/17).

 

Normenkette

HPflG § 13; StVG §§ 1, 7, 17; StVO §§ 2, 9, 11

 

Verfahrensgang

LG Verden (Aller) (Aktenzeichen 5 O 218/16)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das am 28. Februar 2018 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden abgeändert und die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 47.093,20 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11. Dezember 2015 zu zahlen und die Klägerin von den vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten der Rechtsanwälte A. & V. in Höhe von 1.531,90 EUR freizustellen.

2. Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Beklagten bleibt nachgelassen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis 50.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt weiteren Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall, der sich am 27. November 2014 gegen 11.20 Uhr auf der F. Landstraße in L. ereignete.

Am Unfalltag befuhr der Zeuge K. mit einem aus drei Waggons bestehenden, etwa 35,4 Meter langen Straßenbahnzug der Klägerin die F. Landstraße in Richtung F. Kreisel. In diesem Bereich verlaufen die Schienen nicht auf einem eigenen Gleiskörper, sondern auf der Fahrspur des Individualverkehrs. Links neben dem etwa mittig in der Geradeausspur verlaufenden Schienenstrang befindet sich eine Linksabbiegerspur, die auf den Parkplatz eines Einkaufsmarktes führt. Der Beklagte zu 2 stand dort an erster Stelle mit dem bei der Beklagten zu 1 haftpflichtversicherten Lkw-Gespann, bestehend aus Zugmaschine und Auflieger mit einer Gesamtlänge von etwa 16,5 Metern, um den Gegenverkehr passieren zu lassen und anschließend abzubiegen. Von hinten näherte sich die Straßenbahn. Als der Beklagte zu 2 links in Richtung Parkplatz abbog, schwenkte die hintere rechte Ecke des Aufliegers in den Gleisbereich hinein und kollidierte dort mit dem mittleren Waggon der Straßenbahn.

Der Klägerin entstanden Reparaturkosten in Höhe von 92.549,81 EUR sowie Kosten für die Erstellung eines Rechnungsprüfungsberichts in Höhe von 1.460,00 EUR, welche die Klägerin neben einer Kostenpauschale von 25,00 EUR und den Kosten für die Anforderung der Ermittlungsakte von 63,30 EUR ersetzt verlangt. Die Beklagte zu 1 regulierte hierauf außergerichtlich insgesamt 47.004,91 EUR.

Die Klägerin hat erstinstanzlich behauptet, der Beklagte zu 2 sei erst losgefahren, nachdem der Zeuge K. mit dem Führerhaus der Straßenbahn schon nahezu auf der Höhe des Führerhauses des Lkw-Gespannes gewesen sei. Der Zeuge K. habe zuvor nicht erkennen können, dass der Auflieger in den Gleisbereich einschwenken würde. Die Klägerin hat daher gemeint, dass der Beklagte zu 2, der die sich nähernde Straßenbahn zuvor wahrgenommen habe, den Unfall allein verursacht habe und die Betriebsgefahr der Straßenbahn hinter dem grob verkehrswidrigen Verstoß des Beklagten zu 2 gegen § 9 Abs. 1 S. 4 StVO zurücktrete.

Die Beklagten haben in erster Instanz behauptet, der Beklagte zu 2 habe bei der Rückschau die Straßenbahn in einiger Entfernung hinter sich gesehen und daher den Abbiegevorgang eingeleitet. Der Zeuge K. sei mit der Straßenbahn am Lkw-Gespann vorbeigefahren, nachdem diese für ihn erkennbar den Abbiegevorgang begonnen gehabt habe, weshalb die Bek...

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