Leitsatz (amtlich)
1. Wird ein suizidgefährdeter Patient auf der geschlossenen Station einer psychiatrischen Klinik bei einem ernsthaften Suizidversuch angetroffen, bedarf er zunächst einer sorgfältigen Überwachung. Es genügt nicht, dass dem Patienten die vermeintlich allein vorhandenen Selbstmordwaffen abgenommen werden.
2. 50.000 Euro als angemessenes Schmerzensgeld wegen eines hypoxischen Hirnschadens infolge eines Selbstmordversuches eines an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis leidenden selbstmordgefährdeten Patienten.
Normenkette
BGB §§ 823, 831, 847
Verfahrensgang
LG Wuppertal (Urteil vom 30.01.2001; Aktenzeichen 5 O 38/99) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 30.1.2001 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des LG Wuppertal abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld i.H.v. 50.000 Euro zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen und künftigen immateriellen Schäden, die aufgrund ihres Selbsttötungsversuches am 6.6.1998 entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
Die Kosten des Rechtsstreites – beider Instanzen – hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Zwangsvollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung i.H.v. 60.000 Euro abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
Die am 4.6.1966 geborene Klägerin leidet seit 1996 an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, in deren Folge sich bei ihr suizidale Gedanken und Wünsche entwickelten. Seit März 1996 kam es zu stationären Aufenthalten in der Nervenklinik der Beklagten:
– 1.3.1996 – 23.4.1996, nachdem die Klägerin in Selbsttötungsabsicht von einer Brücke gesprungen war;
– 18.1.1997 – 18.3.1997, nachdem die Klägerin versucht hatte, sich im Bett anzuzünden;
– 16.6.1997 – 18.8.1997, nachdem die Klägerin erneut Suizidabsichten geäußert hatte;
– 17.4.1998 – 15.5.1998, nachdem die Klägerin unter starken Depressionen litt und die Einnahme von Medikamenten verweigerte.
Am 2.6.1998 wurde die Klägerin notfallmäßig in die Klinik der Beklagten eingeliefert, nachdem sie am Vorabend mit dem Pkw in den Wald gefahren war und dort – angeblich in Selbsttötungsabsicht – eine Flasche Rum getrunken hatte. Die Klägerin wurde auf der geschlossenen Station untergebracht und mit den Neuroleptika „Lyogen 10 mg” und „Truxal 120 mg” täglich behandelt. Die Klägerin war – auch wegen des vorherigen hohen Alkoholkonsums – zunächst müde und schlief überwiegend. Ausweislich der Behandlungsdokumentation hatte sie sich am 5.6. von – noch am 3.6. geäußerten – Suizidgedanken distanziert und weitere Behandlungsperspektiven entwickelt. Ihr war daher eine Verlegung auf die offene Station zum 8.6.1998 in Aussicht gestellt worden.
Am Morgen des 6.6.1998 bat die Klägerin mit der Begründung, sie habe sich bei der Pediküre am Zeh verletzt, um ein Pflaster. Tatsächlich hatte die Klägerin eine Verletzung am Handgelenk, wobei zwischen den Parteien streitig ist, wie groß die Verletzung war und ob die Klägerin sie sich in Selbsttötungsabsicht zugefügt hatte.
Im Laufe des Vormittags des 6.6.1998 entdeckte der Pfleger B. zufällig, wie die Klägerin in dem zu ihrem Krankenzimmer gehörigen Bad mit einem von ihr ersichtlich nicht benötigten Gurt hantierte. B. erkannte suizidale Absichten, ließ sich den Gurt aushändigen, durchsuchte das Zimmer nach weiteren möglichen gefährlichen Gegenständen und ging danach mit ihr über den Flur in Richtung des Stationszimmers. Er betrat das Zimmer allein und informierte den zuständigen Arzt und den Bezugspfleger der Klägerin über den Vorfall. Als der Bezugspfleger P. nach der Klägerin sehen wollte, war sie weder auf dem Flur noch in dem Aufenthaltsraum oder im Raucherzimmer anzutreffen. Er fand sie schließlich im Bad ihres Krankenzimmers, wo sie sich mittels eines am Fensterrahmen befestigten Trageriemens aufgehängt hatte. Die Klägerin konnte zwar reanimiert werden, hat jedoch irreparable Hirnschäden davongetragen.
Die Klägerin macht das Personal der Klinik der Beklagten dafür verantwortlich, ihren Selbsttötungsversuch nicht verhindert zu haben. Sie hat behauptet, ihre medikamentöse Versorgung sei nicht ausreichend gewesen, um sie ruhig zu stellen; bereits am Morgen des 6.6.1998 hätten weitere Sicherungsmaßnahmen erfolgen müssen, weil ihr Verlangen nach einem Pflaster ein deutlicher Hinweis auf eine erfolgte Selbstverletzung war. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als der Pfleger B. ihr Hantieren mit einem Gurt feststellte, wäre ihre sofortige Fixierung erforderlich gewesen. Keinesfalls hätte er sie jetzt – wie geschehen – alleine lassen dürfen.
Die Klägerin, die neben der Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes verlangt, hat beantragt,
1. die Beklagte zu verurt...