Leitsatz (amtlich)

1. Ein Autofahrer darf den Verkehrsfluss nicht dadurch behindern, dass er ohne Ankündigung und ohne für den nachfolgenden Verkehr erkennbare Ursache plötzlich abbremst.

2. Der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden beruht auf dem Erfahrungssatz, dass das Auffahren im gleichgerichteten Verkehr regelmäßig auf mangelnde Aufmerksamkeit, überhöhte Geschwindigkeit oder einen ungenügenden Sicherheitsabstand des Auffahrenden zurückzuführen ist. Voraussetzung für seine Anwendung ist deshalb das Vorliegen einer Standardsituation, in der eine allenfalls denkbare andere Ursache so unrealistisch erscheint, dass sie außer Betracht bleiben kann.

3. Die für die Anwendung des für ein Verschulden des Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweises erforderliche Typizität der Unfallkonstellation fehlt, wenn ein Umstand vorliegt, der als Ursache aus dem Verantwortungsbereich des Vordermanns in Betracht kommt, etwa ein dem Auffahren unmittelbar vorausgegangener Spurwechsel des Vordermanns oder dessen dem Auffahren vorangegangenes grundloses Abbremsen. Ist ein solcher atypischer Umstand unstreitig, fehlt die Typizität der Unfallkonstellation und damit die Voraussetzung für eine Anwendung des Anscheinsbeweises.

 

Normenkette

BGB § 823 Abs. 1; PflVG § 3; StVG §§ 7, 17-18; StVO § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 2; ZPO § 139 Abs. 1-2, §§ 286, 531 Abs. 2 Nr. 2

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Urteil vom 21.09.2005; Aktenzeichen 2/7 O 54/05)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des LG Frankfurt/M. vom 21.9.2005 (Az.: 2/7 O 54/05) wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten der Berufung zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beschwer des Klägers beträgt 5.537,91 EUR. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger beansprucht Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 30.11.2004 gegen 14.15 Uhr in O1 in der A.-Straße im Bereich ihrer Kreuzung mit der B.-Straße - in der Nähe der Straßenbahn-Haltestelle C ereignet hat. Beteiligte Fahrzeuge waren der vom Kläger gefahrene Pkw X (...) des Klägers und der von der Beklagten zu 1) gefahrene Pkw Y (...) des Beklagten zu 2), der bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert ist.

Der Kläger befuhr die mittlere Fahrspur der A.-Straße in Richtung Innenstadt. Die Beklagte zu 1) fuhr in der gleichen Richtung hinter ihm. In der gemeinsamen Fahrtrichtung gesehen befindet sich unmittelbar hinter der Einmündung der D.-Straße eine Lichtzeichenanlage (LZA). Wegen der Einzelheiten der Verkehrsführung in diesem Bereich wird auf die vom Kläger vorgelegte - unstreitig zutreffende - polizeiliche Unfallskizze (Anlage K 1, Bl. 7 d.A.) Bezug genommen. Vor der das LZA standen zunächst der Kläger und - dahinter - die Beklagte zu 1) mit ihren Fahrzeugen, weil das Signal rot angezeigt wurde; hierbei stand der Pkw des Klägers als erstes wartendes Fahrzeug unmittelbar vor der dort markierten Haltelinie. Nachdem die LZA für den Kläger und die Beklagte zu 1) auf grün umschaltete, fuhren sowohl der Kläger als auch die Beklagte zu 1) an. Noch vor Erreichen der hier nach der Unfallskizze rund 11 bis 12,50m hinter der erwähnten Haltelinie in einem Winkel von etwa 35 zu überquerenden Straßenbahnschienen bremste der Kläger sein Fahrzeug wieder ab und die Beklagte zu 1) fuhr auf.

Der Kläger hat behauptet, er habe seinen Pkw in Höhe der LZA nach der Einmündung der D.-Straße verkehrsbedingt verlangsamt, um sich zu vergewissern, dass sich von links und rechts keine Straßenbahn nähere. Die Beklagte zu 1) sei infolge Unaufmerksamkeit und/oder eines zu geringen Sicherheitsabstands aufgefahren (Beweis: Zeugin Z1). Für ein Verschulden der Beklagten zu 1) spreche bereits ein Anscheinsbeweis. Alle in dem von ihm vorgelegten Schadensgutachten des Dipl.-Ing. SV1 vom 16.12.2004 (Anlage K 2, Bl 9-16 d.A.) festgestellten Schäden am Pkw des Klägers rührten aus dem Unfallereignis vom 30.11.2004 her; der Gutachter habe die reparierten Vorschäden nicht in seine Kalkulation der Kosten der Schadensbeseitigung aufgenommen (Beweis: Sachverständigengutachten).

Seinen Sachschaden hat der Kläger mit 5.537,91 EUR beziffert. Außerdem hat er in I. Instanz die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgelds, mindestens aber von 500 EUR, beansprucht.

Die Beklagten haben vorgetragen, der Kläger habe sein Fahrzeug unmittelbar nach dem Anfahren an der LZA ohne ein für die Beklagte zu 1) erkennbares Motiv aus der bis dahin erreichten Geschwindigkeit von etwa 20-30 km/h plötzlich wieder bis zum Stillstand abgebremst. Die Beklagte zu 1) habe, nachdem sie das für sie überraschende Fahrmanöver erkannt habe, sofort eine Vollbremsung vorgenommen, das Auffahren aber nicht gänzlich verhindern können. Vermutlich habe der Kläger den Unfall vorsätzlich provoziert. Dafür spreche, dass er nach dem vorgelegten Schadensgutachten offenbar auch Schäden ersetzt haben wolle, die - wie angebliche Beschädigungen im Kofferdeckel rechts des ..., der Bodengruppe, der Reserveradmulde und des unteren Teils des Heckbereichs - nicht aus de...

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