Entscheidungsstichwort (Thema)
Schadensersatz bei verspäteter Überlassung von Bahntrassen an private Eisenbahnverkehrsunternehmen
Leitsatz (amtlich)
1. Die zeitlich begrenzte, entgeltliche Überlassung von Eisenbahntrassen durch ein Infrastrukturunternehmen an ein Eisenbahnverkehrsunternehmen zur Durchführung von Transportleistungen stellt sich rechtlich als Mietvertrag dar (Anschluss an BGHZ 228, 353).
2. Die Schienennetz-Benutzungsbedingungen 2016 und 2017 des Infrastrukturunternehmens schließen Schadensersatzansprüche für Vermögensschäden nicht aus.
3. Die vetragswidrig verspätete Bereitstellung der Trassen durch das Infrastrukturunternehmen begründet einen Mangel der Mietsache. Ordnet das Infrastrukturunternehmen die Ursache hierfür in seinem Kodiersystem (hier: LeiDis) seinem Obhuts- und Verantwortungsbereich zu, so begründet dies eine Beweiserleichterung für das Eisenbahnverkehrsunternehmen im Hinblick auf ein Verschulden im Sinne von § 536a Abs. 1 2. Var. BGB.
4. Kann ein Eisenbahnverkehrsunternehmen infolge einer schuldhaft verspäteten Bereitstellung von Trassen seine Pünktlichkeitsverpflichtung aus dem Verkehrsvertrag mit seinem Auftraggeber nicht erfüllen und erleidet dadurch eine Minderung seiner Vergütung, so stellt diese Einbuße grundsätzlich einen ersatzfähigen Schaden dar.
5. Der Schadensersatzanspruch nach § 536a Abs. 1 BGB setzt keinen erheblichen Mangel (§ 536 Abs. 1 S. 3 BGB) voraus.
6. Die Pünktlichkeitsvereinbarung in dem Verkehrsvertrag RX Halle (Saale)-Goslar vom 15.1.2015 in Verbindung mit der Anlage 7 BVB ist sowohl AGB-rechtlich als auch wettbewerbsrechtlich unbedenklich.
7. Der Zurechnungszusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und dem Schaden wird weder durch einen Kontrahierungszwang des Infrastrukturunternehmens infrage gestellt noch durch die hypothetische Möglichkeit der Verkehrsdurchführung durch den Auftraggeber des Eisenbahnverkehrsunternehmens.
Normenkette
BGB §§ 535, 536a Abs. 1
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 14.05.2021; Aktenzeichen 2-08 O 318/19) |
Tenor
Der Berichtigungsbeschluss vom 22.02.2023 wurde im hier dargestellten Text umgesetzt.
Die Berufungen des Klägers und der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 14.05.2021, Az. 2-08 O 318/19, werden zurückgewiesen.
Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin 89 %, die Beklagte 11 % zu tragen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Streithelfers. Diese trägt die Beklagte zu 11 %. Seine weiteren außergerichtlichen Kosten trägt der Streithelfer selbst.
Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Parteien dürfen die Zwangsvollstreckung aus diesem Urteil und dem Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird für beide Parteien zugelassen.
Der Gegenstandswert des Berufungsverfahrens wird auf 562.065,42 EUR festgesetzt. Hiervon entfallen auf die Berufung der Klägerin 500.808,80 EUR und auf die Berufung der Beklagten 61.256,62 EUR.
Gründe
I. Die Klägerin ist ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, das bis Ende 2018 im Schienenpersonennahverkehr tätig war, zurzeit aber keine Verkehrsleistungen erbringt. Die Beklagte betreibt das bundesweite Schienennetz mit rund 36.000 km Länge.
1. a) Zwischen den Parteien wurde ein sogenannter Grundsatz-Infrastrukturnutzungsvertrag (= Grundsatz-INV, Anl. K 1, Anlagenordner Bd. I) mit einer Laufzeit vom 01.10.2010 bis 31.03.2020 geschlossen (§ 4 Ziff. 1 Grundsatz-INV). Nach § 1 Ziff. 1. Grundsatz-INV erbrachte die Klägerin als Eisenbahnverkehrsunternehmen Verkehrsleistungen im öffentlichen Nahverkehr und die Beklagte nach § 2. Ziff. 1. die jeweils in den SNB aufgeführten Pflichtleistungen sowie gegen ebenfalls Zusatzleistungen und Nebenleistungen für die Klägerin. Bei diesen "SNB" handelt es sich um die gem. § 1 Ziff. 1 Grundsatz-INV einbezogenen, sog. "SchienennetzNutzungsbedingungen" der Beklagten in der jeweils gültigen Fassung. Auf die ab dem 12.04.2016 geltenden SNB 2017 (Anl. K 2, Anlagenordner), wird Bezug genommen. Die SNB 2016 sind mit den SNB 2017, soweit von Belang, identisch. Für die in § 2 Grundsatz-INV genannten Leistungen sollte die Klägerin an die Beklagte Entgelte entsprechend einer im Internet abrufbaren Entgeltliste entrichten (§ 3 Ziff. 1. Grundsatz-INV)
Rechtsgrundlage der SNB waren das Allgemeine Eisenbahngesetz, die Eisenbahninfrastruktur-Baunutzungsverordnung, die Eisenbahn- Bau- und Betriebsordnung, die Eisenbahnsignalordnung, die Verordnung über die Haftpflichtversicherung der Eisenbahn, die Eisenbahn Sicherheitsverordnung sowie weitere Regelungen (Ziff. 1.3 SNB). Ziff. 2.7 SNB regelt die Verpflichtung des Eisenbahnverkehrsunternehmens (EVU) zur Sicherstellung, dass die von ihm eingesetzten Fahrzeu...