Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsätze der Schmerzensgeldbemessung bei Dauerschäden
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Haftungsverteilung bei ungeklärter Ursache einer Kollision zwischen Fußgänger und PKW auf der Straße
2. Bei der Bemessung von Schmerzensgeld sind - neben allen anderen, insbesondere auch individuellen Gesichtspunkten - die Grundsätze der taggenauen Schmerzensgeldberechnung im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle zu berücksichtigen, gerade um die Belastung durch dauerhafte Beeinträchtigung abzubilden (Fortführung von OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 18.10.2018 - 22 U 97/16). Der Senat wendet die Grundsätze allerdings mit modifizierten Prozentsätzen an. In einem weiteren Schritt ist wertend zu prüfen, ob das Schmerzensgeld insgesamt - auch im Hinblick auf bestehende Risiken und zukünftige Entwicklungen - angemessen erscheint.
3. Stellt der Geschädigte das Schmerzensgeld vollständig in das Ermessen des Gerichts, ohne eine Untergrenze anzugeben, und führt er eine Bezifferung nur zur Streitwertfestsetzung an, können die Kosten des Rechtsstreits gemäß § 92 Abs. 2 ZPO auch dann vollständig der Gegenseite auferlegt werden, wenn die wesentliche Abweichung lediglich der gerichtlichen Ermessensentscheidung zuzurechnen ist und nicht auf der Nichterweislichkeit von zugrunde zu legenden Bemessungsgesichtspunkten beruht.
Normenkette
BGB §§ 253-254; StVG §§ 7, 9; ZPO § 92 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Darmstadt (Urteil vom 16.01.2019; Aktenzeichen 19 O 43/15) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 16.1.2019 dahingehend abgeändert, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt werden, an die Klägerin über den ausgeurteilten Betrag hinaus ein weiteres Schmerzensgeld i.H.v. 45.000 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2.3.2015 zu zahlen.
Die weitergehende Berufung sowie die Anschlussberufung werden zurückgewiesen.
Die Klage wird im Übrigen abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz tragen die Klägerin 30 %, die Beklagten 70 %. Die Kostenentscheidung erster Instanz bleibt bestehen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das angefochtene Urteil wird für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung erklärt. Die Parteien haben Gelegenheit, die Zwangsvollstreckung der Gegenseite durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Gegenstandswert für die Berufungsinstanz wird auf 150.000 EUR festgesetzt.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz und Schmerzensgeld hinsichtlich eines Verkehrsunfalls vom XX.4.2014 auf der Straße1 in Stadt1. Der Beklagte zu 1 war Fahrzeugführer und Halter des PKW Marke1 ..., dessen Haftpflichtversicherung die Beklagte zu 2 ist. Als die Klägerin die Straße überquerte, kam es zur Kollision mit dem Fahrzeug des Beklagten zu 1, der zuvor aus einer senkrecht zur Fahrbahn liegenden Parklücke rückwärts ausgeparkt hatte und dann im Begriff war, vorwärts zu fahren. Die näheren Einzelheiten des Unfalls sind zwischen den Parteien streitig. Die Klägerin kam jedenfalls vor dem Fahrzeug zum Liegen, wobei dies etwa auf Höhe der Einmündung Straße2 erfolgte.
Die Verantwortlichkeit für den Unfall war erstinstanzlich zunächst durch die Beklagten bestritten worden, die einen Kontakt zwischen den Parteien verneint hatten. Nach der Beweisaufnahme erster Instanz wird dieses Bestreiten in der Berufungsinstanz nicht mehr aufrechterhalten.
Die Klägerin erlitt eine beidseitige Femur-Fraktur, also einen Bruch des Oberschenkelschafts, und musste notoperiert werden. Sie befand sich bis zum XX.4.2014 auf der Intensivstation. Unter dem XX.4.2014 erlitt sie auf der Normalstation einen Hirninfarkt infolge der Operation, der zu einer Hemiparese links führte. Die Klägerin wurde unter dem XX.5.2014 in die Rehaklinik Stadt2 entlassen, wo sie sich bis zum XX.7.2014 aufhielt. Ausweislich der Arztberichte sind die Brüche an den Oberschenkeln folgenlos verheilt, der Hirninfarkt hat allerdings dazu geführt, dass die Klägerin dauerhaft auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist und nur die rechte Hand und den rechten Arm benutzen kann.
Die Klägerin, die bis dahin in ihrer Wohnung allein gelebt hatte, gut zu Fuß war und auch Auto fuhr, ist nunmehr auf vollständige Pflege angewiesen. Bis zum 31.8.2016 wurde ihr ein Grad der Behinderung von 100 %, ab dem 1.9.2016 von 80 % bescheinigt, mit Zusätzen für Gehbehinderung. Die Klägerin wurde ab dem 20.7.2014 in die Pflegestufe 2 eingruppiert. Die Klägerin ist dauerhaft auf Hilfe angewiesen, die im Wesentlichen durch ihre Schwester erfolgt, die im Erdgeschoss des Hauses wohnt. Die Klägerin musste einen Treppenlift einbauen lassen, um ihre Wohnung im 1. Obergeschoss zu erreichen. Sie erhält regelmäßig Krankengymnastik und Ergotherapie und wird täglich vom Pflegedienst der X besucht, der die Ganzkörperreinig...