Leitsatz (amtlich)
1. Die gerichtliche Zuständigkeit des für die Prospekthaftung zuständigen Gerichts ist auch für konkurrierende deliktische Ansprüche selbst dann begründet, wenn der Haftungszeitraum des § 44 BörsG abgelaufen ist.
2. Es liegt nicht derselbe Streitgegenstand vor, wenn ein bestimmter Aktienerwerb nach Ablauf des Sechsmonatszeitraums kumulativ mit einer behaupteten Prospektunrichtigkeit und daneben mit der Unrichtigkeit einer sonstigen Verlautbarung, z.B. ad hoc-Mitteilung, begründet wird. Die dem Ersatzbegehren zugrunde liegenden Lebenssachverhalte sind nur teilidentisch, sie stimmen lediglich betreffend den Aktienerwerb überein.
3. Hypothetische Verluste wegen anzunehmender Anlagen in andere am neuen Markt gehandelter Papiere schließen den Schaden nicht aus. Es gibt keine Erfahrungssätze zu typischem Anlegerverhalten, die den Schluss auf entsprechende Anlageentscheidungen zuließen.
4. Der Anspruch aus vorsätzlich unerlaubter Handlung unterliegt nicht den Beschränkungen der §§ 44, 45 BörsG.
5. Das Integritätsinteresse des durch ein vorsätzlich sittenwidriges, der Gesellschaft zurechenbares Handeln des Vorstands geschädigten Anlegers, der die Aktien durch derivative Umsatzgeschäfte auf dem Sekundärmarkt erworben hat, hat Vorrang vor dem in den Vorschriften der §§ 57, 71 II 2 AktG zum Ausdruck kommenden Gedanken der Kapitalerhaltung und Vermögensbindung.
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 11.05.2004; Aktenzeichen 3/16 O 1/04) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Kläger wird das am 11.5.2004 verkündete Urteil der 16. Kammer für Handelssachen des LG Frankfurt/M. abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger zu 1) Zug um Zug gegen Übereignung von 1.703 Stück Inhaberaktien der A AG (WKN ...) 31.329,34 EUR nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 31.3.2004 und an den Kläger zu 2) Zug um Zug gegen Übereignung von 48 Stück Inhaberaktien der A AG (WKN ...) 2.499,36 EUR nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 31.3.2004 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagten ggü. dem Kläger zu 1) hinsichtlich 1.703 Stück Inhaberaktien der A AG (WKN ...) und ggü. dem Kläger zu 2) hinsichtlich 48 Stück Inhaberaktien der A AG (WKN ...) in Annahmeverzug befinden.
Die Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagten als Gesamtschuldner zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Zwangsvollstreckung der Kläger jeweils durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Kläger jeweils vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Gründe
I. Die Beklagte zu 1) (künftig: die Beklagte) ist ein Unternehmen aus dem Bereich neue Technologien. Anlässlich ihres Börsenganges im November 1999 legte sie einen am 26.11.1999 publizierten Verkaufsprospekt/Unternehmensbericht vor, mit dem sie zum Handel ihrer Aktien in dem damaligen Börsensegment des neuen Marktes nach dem Regelwerk der ... AG zugelassen worden war.
Der Beklagte zu 2) (künftig: der Beklagte) war bis Februar 2002 Vorstandsvorsitzender der Beklagten.
Der Kläger zu 1) erwarb am 7.5.2001 Aktien der Beklagten für insgesamt 61.274,87 DM (31.329,34 EUR), der Kläger zu 2) am 11.8.2000 Aktien für insgesamt 4.888,32 DM (2.499,36 EUR). Die Aktien der Beklagten sind inzwischen nahezu wertlos.
Der im Finanzteil des Verkaufsprospektes und Unternehmensberichtes für 1998 ausgewiesene Umsatz von 4.567.382,69 DM beruhte zu 63 % auf vorgetäuschten Umsätzen, die im Zwischenbericht von 1999 genannten Umsätze waren ganz überwiegend vorgetäuscht, weil der Beklagte, der zwischenzeitlich rechtskräftig zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die zugrunde liegenden Umsätze frei erfunden hatte.
Auch nach dem Börsengang wurden in von dem Beklagten veranlassten ad hoc-Mitteilungen falsche Umsatzzahlen verbreitet. Durch eine Sonderprüfung nach dem 20.2.2002 stellte sich heraus, dass lediglich 1,4 % der Umsätze in 2001 bestätigt werden konnten und auch schon im Börsenprospekt die behauptete Geschäftsbeziehung zur B. Ltd., O1, falsch dargestellt worden war.
Die Kläger nehmen die Beklagten auf Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises der Aktien in Anspruch und haben behauptet, der unrichtige Verkaufsprospekt und 15 (im Einzelnen dargestellte) unrichtige ad hoc-Mitteilungen hätten eine günstige Anlagestimmung hervorgerufen und perpetuiert, die auch die Kläger erfasst und zum Kaufentschluss geführt habe.
Die Kläger haben die Beklagten jeweils gesamtschuldnerisch auf Zahlung der Erwerbspreise nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung der gehaltenen Aktien sowie auf Feststellung des Annahmeverzugs hinsichtlich der Aktien in Anspruch genommen.
Die Beklagten haben die örtliche Unzuständigkeit des LG Frankfurt gerügt und Klageabweisung beantragt.
Wegen weiterer Einzelheite...