Leitsatz (amtlich)
1. Die werbliche Angabe, ein Arzneimittel sei frei von bestimmten Wirkstoffen, versteht der Fachverkehr als solche nicht schon als vergleichende Überlegenheitsbehauptung gegenüber einer Mehrzahl von Wettbewerbspräparaten, die diese Wirkstoffe im Gegensatz zu dem beworbenen Mittel enthalten. Darin liegt auch keine Werbung mit einer Selbstverständlichkeit, wenn der Verzicht auf die Wirkstoffkomponente eine Besonderheit des beworbenen Arzneimittels darstellt.
2. Ist die Eigenschaft der "Freiheit" eines Arzneimittels von bestimmten Wirkstoffen im Hinblick auf die Besonderheiten der mit dem Mittel zu behandelnden Erkrankung (nur) ein Faktor von mehreren, die Ärztinnen und Ärzte bei der Verordnung des einzunehmenden Medikaments berücksichtigen müssen, dann trifft den Werbenden keine gesonderte Aufklärungspflicht darüber, dass bei der Verordnung des beworbenen Mittels unter bestimmten Umständen weitergehende Faktoren berücksichtigt werden müssen als nur die "Freiheit" von bestimmten Wirkstoffen.
3. Die Werbeangabe "Starke Aussichten" ist für sich genommen eine werbetypische pauschale Anpreisung ohne konkreten Inhalt, die einen weiterreichenden Bedeutungsgehalt nur im Zusammenhang mit dem sonstigen Inhalt einer Werbeanzeige haben kann und mit der deshalb nicht stets die Botschaft einhergeht, dass das beworbene Mittel von starker Wirkung ist.
Normenkette
HWG § 3; UWG §§ 3, 3a, 8
Verfahrensgang
LG Hamburg (Aktenzeichen 315 O 96/20) |
Tenor
I. Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin vom 5. Mai 2020 gegen den Beschluss des Landgerichts vom 23. April 2020 wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf EUR 150.000,00 festgesetzt.
Gründe
I. Die Antragstellerin nimmt die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes wegen irreführender Werbung aus Heilmittelwerbe- und Wettbewerbsrecht auf Unterlassung in Anspruch.
Beide Parteien vertreiben Arzneimittel zur Behandlung von Patientinnen und Patienten, die mit dem humanen Immundefizienzvirus 1 (HIV-1) infiziert sind. Die Arzneimittel dienen jeweils der sog. antiretroviralen Therapie (nachfolgend "ART"). Ziel der ART ist eine dauerhafte maximale Suppression der HI-Viruslast. Die ART ist nur bei regelmäßiger Einnahme wirksam, d.h. die Betroffenen werden nicht geheilt, sondern müssen nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft die Therapie lebenslang ohne Unterbrechung aufrechterhalten. Durchgeführt wird die ART üblicherweise von Ärztinnen und Ärzten aus den Gebieten der Inneren Medizin, der Infektiologie und der Allgemeinmedizin, die auf die Behandlung von HIV-Patientinnen und HIV-Patienten spezialisiert sind.
Eine mögliche Komplikation der ART ist, dass die Gabe von Einzelsubstanzen, d.h. nur eines Wirkstoffes, zu einer Resistenzentwicklung führen kann. Daher erhalten Patientinnen und Patienten bei der ART Wirkstoffkombinationen, und zwar üblicherweise auf Basis von drei Wirkstoffen (sog. 3-Drug-Regimen). Als eine Komponente dieser 3-Drug-Regimen wird regelmäßig eine der Substanzen Abacavir (ABC), Tenofovirdisoproxilfumarat (TDF) und Tenofoviralafenamid (TAF) verwandt.
Auf dem deutschen Markt sind nach Angaben der Antragstellerin derzeit 15 Arzneimittel erhältlich, die als 3-Drug-Regimen für die ART empfohlen werden. 5 dieser Präparate werden als Single-Tablet-Regimen angeboten, 10 als Mehrtablettenkombination (Anlage AS 5).
Die Antragstellerin bringt das Arzneimittel C. heraus. Hierbei handelt es sich um ein derartiges 3-Drug-Regimen in Form einer einzelnen Tablette. Es enthält den Wirkstoff TAF.
Die Antragsgegnerin vertreibt u.a. das im Sommer 2019 zugelassene Arzneimittel E., ein Kombinationspräparat in einer Tablette aus nur zwei Wirkstoffen (sog. 2-Drug-Regimen). Es handelt sich hierbei um die Wirkstoffe G. und V., auf eine dritte Komponente der Gruppe ABC, TDF, TAF wurde verzichtet. Der Nachweis der klinischen Wirksamkeit von E. beruht nach den Fachinformationen für das Arzneimittel (Anlage AS 4) auf den sog. GEMINI-Studien. Diese haben ergeben, dass die Wirkstoffkombination G. und V. gegenüber der Verwendung eines 3-Drug-Regimen im Grundsatz nicht unterlegen war, mit Ausnahme von Patientinnen und Patienten mit einer bereits fortgeschrittenen Immunverschlechterung und/oder einer hohen Virämie, d.h. einer hohen Virenlast.
In den aktuellen deutsch-österreichischen Leitlinien zur ART (Anlage AS 1) wird das 2-Drug-Regimen mit den Wirkstoffen, wie sie in E. enthalten sind, als "Alternative" zu der in den Leitlinien empfohlenen Kombination aus drei Wirkstoffen qualifiziert. "Alternative" bedeutet nach der Terminologie der Leitlinien "kann gegeben werden, kann für bestimmte Patienten die bevorzugte Wahl darstellen". Nach den Leitlinien sei bei Therapien ohne die Wirkstoffe TAF oder TDF zudem eine fehlende oder geringere Hepatitis-B-Wirksamkeit zu berücksichtigen. Nach den GUIDELINES der "European AIDS Clinical Society" (Anlage AS 7) werden sowohl Kombi...