Leitsatz (amtlich)
1.
Die Vorschrift des § 2 Abs. 6 StGB ist mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. 12. 2009, die seit dem 10. 5. 2010 rechtskräftig ist, dahin auszulegen, dass der Wegfall der 10-Jahres-Frist in § 67 d Abs. 1 a.F. keine Rückwirkung haben darf, so dass auf Straftaten, die vor dem 31. 1. 1998 begangen wurden, die alte Norm Anwendung finden muss und die Sicherungsverwahrung ggf. für erledigt zu erklären ist (Bestätigung von III-4 Ws 157/10 OLG Hamm).
2.
Zur (verneinten) Vorlagepflicht an den BGH.
Tenor
1.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
2.
Die durch Urteil des Schwurgerichts des Landgerichts Hildesheim vom
19. August 1987 angeordnete Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung ist erledigt.
3.
Der Untergebrachte ist in dieser Sache sofort auf freien Fuß zu setzen, wobei die Anordnung der Entlassung der Vollstreckungsbehörde obliegt.
4.
Mit der Entlassung aus dem Vollzug tritt Führungsaufsicht ein.
5.
Die Dauer der Führungsaufsicht beträgt fünf Jahre.
6.
Der Verurteilte wird für die Dauer der Führungsaufsicht der Aufsicht und Leitung des für seinen jeweiligen Wohnort zuständigen hauptamtlichen Bewährungshelfers unterstellt.
7.
Die Erteilung der weiteren Weisungen wird der Strafvollstreckungskammer übertragen.
Gründe
I.
Das Landgericht Hildesheim hat durch Urteil vom 19. August 1987 gegen den jetzt 61jährigen Verurteilten wegen schweren Raubes eine Freiheitsstrafe von neun Jahren verhängt. Zugleich hat es gegen den Verurteilten die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Diese wird seit dem 24.11.1998 und damit mehr als zehn Jahre vollzogen. Der Untergebrachte hat im Hinblick auf die seit dem 10. Mai 2010 endgültige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009 (Az.: 19359/04) beantragt,
die Unterbringung für erledigt zu erklären.
Diesen Antrag hat die Strafvollstreckungskammer mit dem angefochtenen Beschluss zurückgewiesen. Sie hat sich nicht in der Lage gesehen, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in das innerstaatliche Recht umzusetzen und sich im Wesentlichen auf entsprechende Beschlüsse der Oberlandesgerichte Koblenz, Celle und Stuttgart gestützt. Hiergegen wendet sich der Untergebrachte mit seiner sofortigen Beschwerde. Die Generalstaatsanwaltschaft hat Verwerfung der Beschwerde beantragt, hilfsweise,
die Sache gemäß § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG n.F. dem Bundesgerichtshof vorzulegen.
II.
Die sofortige Beschwerde hatte Erfolg. Die Unterbringung war gemäß § 67 d Abs. 1 StGB a.F. für erledigt zu erklären, da der Betroffene sich länger als zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung befindet. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 28. Mai 2010 (4 Ws 157/10 OLG Hamm) zur Frage, welches Recht Anwendung findet, folgende Ausführungen gemacht:
"Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung war gemäß § 67 d Abs. 1 StGB in der seit 1975 bis 1998 geltenden Fassung für erledigt zu erklären. Diese Norm findet trotz der durch das Gesetz vom 26.01.1998 zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten, in Kraft getreten am 31.01.1998, erfolgten Änderung der Gesetzeslage Anwendung. Dies ergibt sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009 (Az.: 19359/04) nach der der im Jahre 1998 angeordnete rückwirkende Wegfall der 10-Jahres-Frist für die erste Sicherungsverwahrung menschenrechtswidrig ist. Diese Entscheidung ist seit dem 10. Mai 2010 endgültig. Danach verstößt die Vollstreckung über den 10-Jahres-Zeitpunkt, der bei dem Untergebrachten bereits seit fünf Jahren verstrichen ist, hinaus sowohl gegen Art. 5 EMRK als auch gegen Art. 7 EMRK. Denn zu dem Zeitpunkt, als der Untergebrachte zur Sicherungsverwahrung verurteilt wurde, galt noch die 10-Jahres-Frist. Durch den im Jahre 1998 angeordneten Wegfall wurde gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen, da nach der nachvollziehbaren Wertung des EGMR die Sicherungsverwahrung keine Maßregel, sondern eine "Strafe" im Sinne des Art. 7 EMRK darstellt (vgl. EGMR, Entscheidung vom 17.12.2009, beckRS 2010, 01692 Rn.122 ff). Ferner beruht die weitere Vollziehung nicht mehr auf dem ursprünglichen Urteil des Landgerichts Duisburg, da dieses nur eine Sicherungsverwahrung für die Dauer von 10 Jahren angeordnet hatte, auch wenn dies sich nicht unmittelbar dem Tenor entnehmen lässt. Somit lässt sich die weitere Freiheitsentziehung nicht mehr auf eine Verurteilung "durch ein zuständiges Gericht" stützen, so dass sie nicht durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 a EMRK gerechtfertigt sein kann (EGMR a.a.O. Rn 87 und 96).
Zwar wirkt die Entscheidung des EGMR unmittelbar nur zwischen dem Beschwerdeführer und der Bundesrepublik Deutschland; sie hat keine "erga omnes"-Wirkung für alle Untergebrachten, die sich nach Ablauf der 10-Jahres-Frist noch in der Unterbringung befinden. Dennoch müssen die Bundesrepublik und ihre staatlichen Organe - somit auch die Vollstreckungsgerichte - als verpflichtet angesehen werden, zu verhindern, d...