Entscheidungsstichwort (Thema)
Vaterschaftsanfechtung: Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer sozio-familiären Bindung
Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Beurteilung eines „längeren Zusammenlebens” als Voraussetzung für die Annahme einer sozial-familiären Bindung i.S.d. § 1600 Abs. 3 S. 2 BGB kommt es auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung an. Dabei ist jedenfalls bei einem Zeitraum von zwei Jahren von einem längeren Zusammenleben auszugehen.
2. Für Umstände, die trotz des längeren Zusammenlebens gegen die Regelvermutung des § 1600 Abs. 3 S. 2 BGB sprechen, ist derjenige darlegungs- und beweispflichtig, der die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anficht.
Normenkette
BGB § 1600 Abs. 3
Verfahrensgang
AG Minden (Urteil vom 02.11.2005; Aktenzeichen 10 F 776/04) |
Nachgehend
Tenor
1. Das Urteil des AG - FamG - Minden vom 2.11.2005 wird abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
3. Die Revision wird für den Kläger zugelassen.
Gründe
I. Der Kläger ist der leibliche Vater der am 19.4.2004 geborenen Beklagten zu 1), wie aufgrund des erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachtens feststeht und zwischen den Parteien nicht streitig ist.
Der Beklagte zu 2) lebt mit der Kindesmutter zusammen. Er erkannte die Vaterschaft für die Beklagte zu 1) am 14.5.2004 an.
Das AG hat antragsgemäß festgestellt, dass nicht der Beklagte zu 2) der Vater der Beklagten zu 1) ist, sondern der Kläger. Das Urteil enthält weder Tatbestand noch Entscheidungsgründe. Gegen das Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten zu 1), nicht des Beklagten zu 2).
Die Beklagte zu 1) beantragt, die angefochtene Entscheidung abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil.
Einziger Streitpunkt ist das Bestehen einer sozial-familiären Bindung zwischen den Beklagten. Die Beklagte zu 1) trägt dazu vor, ihre Mutter und der Beklagte zu 2) lebten bereits seit ihrer Geburt zusammen. Der Beklagte zu 2) habe bereits während der Schwangerschaft die Kindesmutter zu sämtlichen Vorsorgeuntersuchungen und Arztbesuchen begleitet. Er habe die finanzielle Verantwortung für Mutter und Kind übernommen und erledige die behördlichen Angelegenheiten für das Kind. Er verant-worte gemeinsam mit der Mutter die Erziehung und Betreuung des Kindes und ver-bringe sowohl seine gesamte Freizeit als auch seinen Urlaub mit Mutter und Kind. Er gehe mit dem Kind zum Arzt, versorge es nachts, wasche es und mit spiele mit ihm. Daran habe sich auch nichts geändert, seit er erfahren hat, dass er nicht der leibliche Vater des Kindes ist.
Der Kläger bestreitet "die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Beklagten" mit Nichtwissen und meint, es komme für die Beurteilung des Vorliegens einer sozial-familiären Bindung auf den Zeitpunkt der Erhebung der Klage an, hier Anfang August 2004. Zu diesem Zeitpunkt habe jedenfalls noch kein längeres Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft zwischen den Beklagten vorgelegen.
II. Die Berufung ist zulässig (1.) und begründet (2.).
1.a) Der Senat hat trotz des vorliegenden Verstoßes gegen § 310 Abs. 2 ZPO in der Sache zu entscheiden, weil keine der Parteien die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und Zurückverweisung beantragt hat, § 538 Abs. 2 S. 1 ZPO.
b) Dass der Beklagte zu 2) sich nicht am Berufungsrechtsstreit beteiligt hat, ist un-schädlich, denn er ist wegen § 1600e Abs. 1 2. Var. BGB notwendiger Streitgenosse der Beklagten zu 1) (vgl. Wieser, FamRZ 2004, 1773). Er ist durch die rechtzeitige Berufung der Beklagten zu 1) selbst Partei im Rechtsmittelverfahren (vgl. BGH, FamRZ 1976, 376; OLG Karlsruhe ZIP 1991, 101).
2. Die Berufung ist begründet, denn das AG - FamG - hat der Klage zu Unrecht stattgegeben.
Die Klage ist unbegründet. Zwar ist der Kläger nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 2. HS BGB anfechtungsberechtigt, denn er hat eidesstattlich versichert, der Kindes-mutter während der gesetzlichen Empfängniszeit beigewohnt zu haben, und er ist der leibliche Vater der Beklagten zu 1). Die weiteren Voraussetzungen der Anfech-tung nach § 1600 Abs. 2 BGB liegen aber nicht vor.
a) Die Vorschrift ist hier anwendbar. Denn auf das Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und den Beklagten, alle deutsche Staatsbürger, finden die §§ 1591 ff. BGB in ihrer aktuellen Fassung Anwendung. Der hier einschlägige § 1600 Abs. 1 Nr. 2,
Abs. 2 und 3 BGB ist am 30.4.2004 und damit 11 Tage nach der Geburt der Beklag-ten zu 1) in Kraft getreten, wie sich aus Art. 3 des Gesetzes zur Änderung der Vor-schriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugs-personen des Kindes, zur Registrierung von Vorsorgeverfügungen und zur Ein-führung von Vordrucken für die Vergütung von Berufsbetreuern vom 23.4.2004 ergibt (BGBl. I, 598). Eine Übergangsregelung ist nicht vorgesehen, Art. 229 § 10 EGBGB betrifft lediglich die Frage des Fristbeginns i.S.v. § 1600b Abs. 1 BGB im Fa...