Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeitsversicherung, Nachprüfungsverfahren: Einstellungszeitpunkt, vorsorgliche Mitteilung, Beweis
Leitsatz (amtlich)
a) Gibt der Berufsunfähigkeitsversicherer in der Einstellungsmitteilung einen späteren Einstellungszeitpunkt an als nach den Versicherungsbedingungen zulässig, so muss er sich an dem - dem Versicherungsnehmer günstigen - Einstellungszeitpunkt der Einstellungsmitteilung festhalten lassen.
b) Der Versicherer kann auch dann bereits im gerichtlichen Streit um die Berufsunfähigkeit (hilfsweise) die Einstellung erklären, wenn nach den AVB das Nachprüfungsverfahren erst nach (der im Streiffall fehlenden) "Anerkennung oder Feststellung der Leistungspflicht" eröffnet ist.
c) Zu den Anforderungen an die formale Ordnungsgemäßheit einer Einstellungsmitteilung, wenn die Einstellung (hilfsweise) unter Berufung auf ein gerichtliches Sachverständigengutachten erfolgt (formale Ordnungsgemäßheit hier bejaht)
d) Zu den Anforderungen an den vom Versicherer zu erbringenden Beweis des Fortfalls der Berufsunfähigkeit bei depressiver Restsymptomatik und fortbestehender psychischer Störung (dysfunktionales Vermeidungsverhalten), wenn im Versicherungsvertrag keine Behandlungsobliegenheit vereinbart wurde (Fortfall der Berufsunfähigkeit hier bejaht).
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Aktenzeichen 18 O 88/20) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 03.02.2022 verkündete Urteil der 18. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld (18 O 88/20) teilweise abgeändert.
Die Beklagte wird über das erstinstanzliche Urteil hinausgehend verurteilt, an den Kläger weitere 4.156,30 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus jeweils 2.078,15 EUR ab dem 02.11. und 02.12.2022 zu zahlen.
Es wird weiter festgestellt, dass der Kläger über den 31.10.2022 hinaus bis zum 01.12.2022 von der Pflicht von der Zahlung der monatlichen Beiträge zu der Berufsunfähigkeitsversicherung zur Versicherungsnummer N01 befreit gewesen ist.
Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Streithelferin trägt der Kläger zu 95 %; im Übrigen trägt die Streithelferin ihre außergerichtlichen Kosten erster Instanz selbst. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz zu 5 %.
Die Kosten der Berufung einschließlich der in der Berufungsinstanz angefallenen Kosten der Streithelferin trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Vollstreckungsgläubiger bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch die jeweilige Gegenpartei gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweilige Gegenpartei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Die Parteien streiten um Leistungen aus einer Berufungsunfähigkeitsversicherung.
Der am 00.00.1983 geborene Kläger unterhält bei der Beklagten eine selbstständige Berufsunfähigkeitsversicherung. Versicherungsbeginn war der 01.09.2005, der Vertrag hat eine Laufzeit bis zum 01.09.2048 (Einzelheiten: Versicherungsschein Bl. 110 ff. der elektronischen Gerichtsakte erster Instanz - nachfolgend eGA-I bzw. eGA-II für jene zweiter Instanz). Nach den Bedingungen war zum Zeitpunkt des Eintritts des (möglichen) Versicherungsfalls eine BU-Rente von monatlich 2.078,15 EUR geschuldet, der monatliche Beitrag betrug zuletzt 82,57 EUR. Die zugrundeliegenden AVB lauten (auszugsweise) wie folgt (Bl. 13 ff. eGA-I):
§ 1 Versicherte Leistungen und Überschussbeteiligung
(1) Wird die versicherte Person während der Dauer dieser Versicherung zu mindestens 50 % berufsunfähig, so erbringen wir folgende Versicherungsleistungen bis zum Ende der vereinbarten Leistungsdauer:
- volle Befreiung von der Beitragszahlungspflicht und
- Zahlung einer monatlichen Berufsunfähigkeits-Rente.
Bei einem Berufsunfähigkeitsgrad unter 50 % besteht kein Anspruch auf diese Versicherungsleistungen.
[...]
(5) Berufsunfähigkeitsleistungen erfolgen grundsätzlich mit Ablauf des Monats, in dem die Berufsunfähigkeit eingetreten ist.
[...]
(6) Der Anspruch auf Beitragsbefreiung und Rente erlischt, wenn der Grad der Berufsunfähigkeit unter 50 % bzw. unter 25 % (Staffelregelung) sinkt, die Pflegebedürftigkeit weniger als 3 Punkte (vgl.§ 2 Absatz 7) beträgt, die versicherte Person stirbt oder bei Ablauf der vertraglichen Leistungsdauer. [...]
§ 2 Begriff der Berufsunfähigkeit
(1) Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung, welche zur Berufsunfähigkeit geführt hat, ausgestaltet war, auszuüben.
Berufsunfähigkeit liegt nicht vor, wenn die versicherte Person eine andere, ihrer Ausbildung, Erfah...