Leitsatz (amtlich)

1. Der Umstand, dass die Klägerin aufgrund der verbliebenen kognitiven Fähigkeiten in der Lage ist, ihre Einschränkungen im Vergleich zu anderen Kindern zu erkennen, rechtfertigt es nicht, das Maß ihrer Lebensbeeinträchtigung mit den Fällen einer völligen Zerstörung der Persönlichkeit bei einer Hirnschädigung infolge eines Behandlungsfehlers bei der Geburt gleichzusetzen.

2. Das Maß des Leidens, das durch die Einsichtsfähigkeit in die eigene Situation ausgelöst wird, erscheint bei der Schädigung eines zuvor gesunden Kindes aufgrund von dessen Wahrnehmung des Verlustes der zuvor vorhandenen Lebensqualität gravierender als in Fällen eines Geburtsschadens, bei denen das Kind von vorneherein nur ein gewisses Maß an Lebensqualität erreichen kann.

3. Der Verschuldensgrad des Behandlers bei einem Aufklärungsversäumnis ist mit dem Verschulden eines Behandlers, dem ein grober Behandlungsfehler unterläuft, nicht vergleichbar.

4. Ein immaterieller Schaden lässt sich nicht schematisch in Tagegeldern abbilden.

 

Normenkette

BGB § 253

 

Verfahrensgang

LG Mainz (Aktenzeichen 2 O 1/10)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 22.03.2022; Aktenzeichen VI ZR 16/21)

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Mainz vom 12.06.2018, Az. 2 O 1/10, wird zurückgewiesen.

2. Die Klägerin hat 56 %, der Beklagte hat 44% der Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Die Parteien dürfen die Vollstreckung der jeweils anderen Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des nach dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

5. Der Streitwert wird bis zum 21.09.2018 auf 446.500,00 EUR und für die Zeit danach auf 203.335,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt immateriellen und materiellen Schadensersatz für eine Schädigung, die sie bei ihrer Geburt am ... 2006 erlitten hat. Wie bereits rechtskräftig entschieden, haftet der Beklagte der Klägerin dem Grunde nach für hieraus resultierende Schmerzensgeldansprüche sowie Ansprüche zur Deckung ihrer Pflege und Versorgung für den Zeitraum 1. Februar 2006 bis 31. Dezember 2009. Weiterhin steht die Einstandspflicht des Beklagten für weitere materielle und immaterielle Schäden fest. Die Haftung des Beklagten beruht nach dem rechtskräftigen Urteil vom 12.07.2017 auf einer nicht ausreichenden Aufklärung der Kindesmutter durch den Beklagten über die im vorliegenden Fall erhöhten Risiken einer vaginalen Entbindung im Vergleich zu einer geplanten Kaiserschnittentbindung.

Die Klägerin leidet seit ihrer Geburt unter einer infantilen globalen dyskinetischen Cerebralparese mit Störung des Bewegungsapparates und gravierenden Koordinationsstörungen. Betroffen sind die psychischen und kognitiven Bereiche sowie die Persönlichkeitsbildung. Es liegt eine deutliche Mikrozephalie vor und sie leidet unter Epilepsie. Sie kann nicht sprechen, nicht ohne Hilfe essen, nicht lesen und schreiben. Sie kann keine gezielten Bewegungen ausführen, nicht laufen, nicht stehen und nur mit Hilfsmitteln sitzen. Die Klägerin leidet an Inkontinenz und Gelenkdeformationen sowie Versteifungen. Aufgrund einer Fehlkoordination der Zunge stößt sie Speisen aus der Mundhöhle aus und muss gefüttert werden. Sowohl Nahrungsaufnahme als auch die Flüssigkeitszufuhr muss sorgfältig überwacht werden. Dennoch ist sie erheblich unterernährt. Sie leidet an einem ausgeprägten Intelligenzverlust und hat einen Intelligenzquotienten von 30. Die Sehkoordination und Hörfähigkeit ist gemindert.

Seit ihrer Geburt wird sie zu Hause von den Eltern gepflegt. Seit dem 3. August 2009 besuchte sie täglich von 8.00 Uhr bis 15:30 Uhr einen Kindergarten. Im Zeitraum bis Ende 2009 war sie in die Pflegestufe II eingestuft, in der sie zunächst ein monatliches Pflegegeld in Höhe von 205,- EUR, ab Juli 2009 in Höhe von 420,- EUR erhielt. Sie ist aktuell in Pflegestufe V eingeordnet.

Am 3. November 2017 zahlte der Beklagte der Klägerin einen Betrag in Höhe von 400.000,-EUR, von dem 300.000,- EUR auf das Schmerzensgeld und 100.000,- EUR auf die Pflegeleistungen entfielen.

Die Klägerin war erstinstanzlich der Auffassung ihr stehe für Pflegemehraufwendungen für den Zeitraum vom 1. Februar 2006 bis zum 31. Dezember 2009 ein Betrag in Höhe von 3.500,- EUR im Monat zu, woraus sich ein Klagebetrag von 166.500,- EUR ergebe. Bei der Berechnung sei ein Stundenlohn von 25,- EUR anzusetzen. Als Schmerzensgeld sei ein Betrag von mindestens 680.000,00 EUR angemessen.

Hinsichtlich des weiteren erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes sowie der erstinstanzlichen Anträge der Parteien wird auf die angefochtene Entscheidung vom 12. Juni 2018 (Bl. 1541 ff. GA) verwiesen.

Das Landgericht hat der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 500.000,- EUR abzüglich gezahlter 300.000,- EUR sowie einen Betrag in Höhe von 143.165,- EUR abzüglich gezahlter 100.000,- EUR f...

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