Verfahrensgang
LG Aachen (Aktenzeichen 9 O 246/16) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 16. März 2017 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Aachen - 9 O 246/16 - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.085,91 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11. Oktober 2016 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger zu 95% und die Beklagte zu 5%. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Kläger zu 88% und der Beklagten zu 12% auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 540 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen
II. Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache zu einem Teil Erfolg.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der von ihm auf den streitgegenständlichen Versicherungsvertrag geleisteten Prämien unter Abzug der Risikokosten. Ihm stehen ferner gezogene Nutzungen im Sinne von § 818 Abs. 1 BGB zu. Anzurechnen ist der Rückkaufswert.
1. Der Kläger konnte dem Vertragsschluss noch mit Schreiben vom 24. März 2014 widersprechen.
Die Widerspruchsfrist des § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. ist nicht wirksam in Gang gesetzt worden. Nach § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. beginnt der Lauf der hier maßgebenden Frist von 14 Tagen erst, wenn dem Versicherungsnehmer der Versicherungsschein und die Unterlagen nach Absatz 1 (Versicherungsbedingungen und Verbraucherinformationen nach § 10a VAG) vollständig vorliegen und der Versicherungsnehmer bei Aushändigung des Versicherungsscheins schriftlich, in drucktechnisch deutlicher Form über das Widerspruchsrecht, den Fristbeginn und die Dauer belehrt worden ist.
Die maßgebende Belehrung im Policenbegleitschreiben vom 15. September 1995 (Anlage B 3) ist inhaltlich in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft, weil die Belehrung zum einen den Fristbeginn nur an den "Zugang dieses Briefes", nicht aber auch an den Erhalt des Versicherungsscheins, der Allgemeinen Versicherungsbedingungen und der Verbraucherinformation anknüpft (BGH, RuS 2016, 170) und zum anderen der unverzichtbare Hinweis darauf, dass der Widerspruch schriftlich zu erheben ist (vgl. BGH, RuS 2017, 170), fehlt.
2. Der Kläger war noch im Jahr 2014 zum Widerspruch berechtigt. § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F., der vorsah, dass das Recht zum Widerspruch ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie erlischt, ist auf Lebens- und Rentenversicherungsverträge nicht anwendbar (BGHZ 201, 101).
Das Widerspruchsrecht ist weder verwirkt noch verstößt dessen Ausübung gegen Treu und Glauben.
Ein Recht ist verwirkt, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (Umstandsmoment); hier fehlt es jedenfalls am Umstandsmoment, denn die Beklagte kann ein schutzwürdiges Vertrauen schon deshalb nicht in Anspruch nehmen, weil sie die Situation selbst herbeigeführt hat, indem sie dem Kläger keine ordnungsgemäße Widerspruchsbelehrung erteilt hat (vgl. auch dazu BGH, aaO, Rz. 39). Entgegen der Auffassung des Landgerichts lässt sich aus den Regelungen in § 124 Abs. 3 BGB und § 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB nicht herleiten, die Ausübung des Widerspruchsrechts sei unter dem Aspekt der "Einheit der Rechtsordnung" nach Ablauf eines Zeitraums von 10 Jahren seit dem Vertragsschluss ausgeschlossen. Dem steht schon entgegen, dass das Widerspruchsrecht als Gestaltungsrecht keiner Verjährung unterliegt (vgl. BGH, VersR 2015, 226 sowie NJW 2018, 225). Im Übrigen bedarf es auch keines Rückgriffs auf den Gedanken der "Einheit der Rechtsordnung", weil das Zivilrecht sowohl mit dem Rechtsinstitut der Verwirkung (das indes neben dem reinen Zeitmoment aus guten Gründen auch ein Umstandsmoment fordert) als auch mit dem generellen Rückgriff auf § 242 BGB ausreichende Möglichkeiten zur Verfügung stellt, einer unzulässigen Rechtsausübung im Einzelfall entgegenzuwirken. Diese etablierten Rechtsinstitute, die sachgerechte Einzelfallentscheidungen ermöglichen, würden unterlaufen, wenn der Rechtsgrundsatz gelten würde, dass die Ausübung eines Rechts grundsätzlich 10 Jahre nach seiner Entstehung nicht mehr statthaft wäre. Die Aufstellung eines solchen allgemeingültigen Rechtsgrundsatzes würde die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung überschreiten. Soweit es ein nach fehlerhafter Belehrung fortbestendendes Recht, einem Lebensversicherungsvertrag nach § 5a VVG a.F. zu widersprechen, betrifft, wäre die vom Landgericht vertretene Auffassung auch nicht mit dem europarechtlichen Effektivitätsgebot, das allgemein gebietet, die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (vgl. EuGH, Urt. v. 21. Dezember 2016 - C 327/15 -, Rz. 90), ...